18. April 1965: Die große Reisewelle rollt

18.4.2015, 07:00 Uhr
18. April 1965: Die große Reisewelle rollt

© NN / Gertrud Gerardi

Auf dem Betonband lieferten sich die Fahrzeuge eine wilde Jagd. Die Wagen, die aus Richtung Frankfurt kamen, stammten meist aus den westdeutschen Hauptstädten, man sah Kölner, Bonner, Düsseldorfer, Essener in schier endloser Folge. Am Nürnberger Kreuz war die Autobahn Berlin–München mit Barrieren auf halbe Breite eingeengt, damit der Westverkehr leichter eingeschleust werden konnte; zeitweise war Polizei eingesetzt, um Stockungen und Wartezeiten zu vermeiden.

18. April 1965: Die große Reisewelle rollt

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Von einigen kleineren Zwischenfällen abgesehen, lief jedoch alles glatt; die erste größere Stockung hatten die Süd-Urlauber erst auf der Münchner Autobahn zwischen Greding und Kinding auszustehen. Die Nürnberger selbst beteiligten sich rege an der allgemeinen Flucht aus den Städten ins Grüne. Donnerstag abend und gestern früh bot sich auf den Ausfallstraßen überall das gleiche Bild: Stoßstange an Stoßstange bewegte sich die rollende Legion ihren tausend Zielen entgegen. Trotzdem brauchte die Polizei auch hier nur selten einzugreifen; die Zahl der Unfälle hielt sich in erfreulichen Grenzen.

Daß die Ostersaison ein gutes Geschäft werden würde, wußten die Reisebüros bereits im voraus. Schon vor Wochen waren die beliebtesten europäischen Ferienziele zum großen Teil ausverkauft; Ostern 65 übertrifft die vergangenen Jahre noch bei weitem, obwohl die auch nicht gerade mager waren. Besonders günstig entwickelt haben sich die Flugreisen, immer mehr Leute gehen dazu über, auf dem Luftweg

18. April 1965: Die große Reisewelle rollt

© NN / Gertrud Gerard

in ein paar Stunden ein Ziel zu erreichen, zu dem sie per Eisenbahn vielleicht eineinhalb Tage unterwegs wären. Mallorca steht hier nach wie vor an der Spitze; sehr gefragt sind auch Flüge nach Spanien, Nordafrika, Italien, Griechenland und in den Nahen Osten. Das ist die einhellige Aussage der Unternehmer. „Viele Leute“, sagen sie, „kommen zu uns, die schnell mal vier Tage in Spanien verbringen wollen. Freilich verließen auch mit der Bahn Tausende die Stadt. Am Karfreitag mußten die Parkplätze vor dem Hauptbahnhof zeitweise gesperrt werden, weil sie hoffnungslos verstopft waren. Viele Gastarbeiter benutzten die Gelegenheit, um in der Heimat Ostern zu feiern und den Frühling ein paar Tage lang zu genießen. Auf den Bahnsteigen herrschte starker Andrang; vom 14. bis 21. April setzte die Bundesbahn insgesamt 95 Entlastungszüge und einen Sonderzug für griechische Gastarbeiter von Hannover über Nürnberg nach Athen ein.

Wer über Ostern in die Ferne schweift, hat Nürnberg heute bereits hinter sich. Die zu Hause Gebliebenen werden – wenn das Wetter nicht einen Strich durch die Rechnung macht – vielleicht in der Fränkischen Schweiz, im Altmühltal oder an anderen schönen Fleckchen in Franken und der Oberpfalz einen Osterspaziergang machen. Oder sie werden endlich einmal das Buch in die Hand nehmen, das sie schon seit Weihnachten lesen wollten, eine Platte auflegen und vielleicht eine Partie Schach spielen. Jedenfalls brauchen sie keine Angst davor zu haben, am Ostermontagabend in endloser Kolonne Schritt fahren zu müssen, sich in überfüllten Zügen zu drängen, Kraft und Nerven zu opfern und die Nachteile des Massentourismus am eigenen Leib zu verspüren.

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