19. Juni 1966: Ein Silberstreifen am Horizont?

19.6.2016, 07:00 Uhr
19. Juni 1966: Ein Silberstreifen am Horizont?

© Gerardi

Aber nur wenige Tausend harrten am Morgen in der glühenden Sonne auf dem Hauptmarkt aus und hörten bei der Kundgebung zum „Tag der deutschen Einheit“ den Berliner Wirtschaftssenator Dr. Karl König und Bürgermeister Franz Haas zum größten nationalen Problem der Deutschen sprechen. Zum erstenmal war dabei die Hoffnung herauszuhören, daß sich beide Teile auf den Weg zur Wiedervereinigung Schritt für Schritt näher kommen können.

Am Abend versammelten sich die evangelische und katholische Jugend zum Gottesdienst in der Meistersingerhalle. Bereits am Vortag hatte der Ansbacher SPD-Bundestagsabgeordnete Konrad Porzner vor der Studentenschaft gesprochen.

Alle Parteien sollen mitmachen

„Es kommt darauf an, nüchtern und ohne Illusionen über die deutsche Frage zu reden, denn es ist viel Bewegung hineingekommen“, erklärte Dr. Karl König. Er hatte dabei ohne Zweifel den zwischen SPD und SED vorgesehenen Redneraustausch im Auge, aber er glaubte auch aus vielen anderen Anzeichen schließen zu können, daß ein Anfang auf dem dornigen Weg zur Wiedervereinigung gemacht worden ist.

Der Senator aus der geteilten Hauptstadt will jedoch nicht nur sehen, daß sich SPD und SED gegenseitig die Meinung sagen. Er möchte auch die anderen bundesdeutschen Parteien beteiligt und die Deutschlandpolitik von allen getragen wissen. Auf diese Weise könnten den Deutschen hüben und drüben spürbare Erleichterungen entstehen: Nachbarschaftsverkehr im Zonengrenzgebiet, Zeitungsaustausch oder verstärkter Interzonenhandel; für Berlin aber Verwandtenbesuche über das ganze Jahr und ohne Passierscheine oder freier Telephonverkehr.

Bürgermeister Franz Haas, der 1. Vorsitzende des Ostkuratoriums Unteilbares Deutschland, hatte zuvor die Kundgebung eröffnet und zahlreiche Gäste – Bundes- und Landtagsabgeordnete, Regierungspräsident Karl Burkhardt, Senatoren, Offiziere der Bundeswehr und Stadträte – begrüßt. „Andere Völker haben ihr Selbstbestimmungsrecht erhalten. Bei uns Deutschen ist das 21 Jahre nach dem Kriege noch nicht möglich“, klagte er.

Not hinter dem Stacheldraht

Viele der Teilnehmer an der Kundgebung nutzten außerdem die Möglichkeit, die Ausstellung „Wir mahnen – Erlebnis ist Aufgabe“ zu besichtigen, die der Verband der Heimkehrer in der Halle des Wolffschen Rathauses eröffnete. Die sorgfältige Zusammenstellung schöpferischer Werke deutscher Kriegsgefangener zeigt, mit welchen Mitteln es gelang, die materielle, geistige und seelische Not hinter dem Stacheldraht zu überwinden, wie sich die deutschen Soldaten aber auch bemühten, ein fremdes Volk zu verstehen.

Schon am Vortag hatte der Ansbacher SPD-Bundestagsabgeordnete Konrad Porzner in der Pädagogischen Hochschule vor Studenten der 6. Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg, der Pädagogischen Hochschule und des Ohm-Polytechnikums die politische Situation analysiert und die Chancen für eine Annäherung zwischen der Bundesrepublik und Mitteldeutschland ausgerechnet.

Der 31jährige Studienrat sah dabei im Gleichgewicht der militärischen Kräfte die Grundlage für eine größere politische Handlungsfreiheit in Europa, die nicht zuletzt dem deutschen Volk nützen kann. Hoffnungsvolle Ansätze erblickte er obendrein im Generationswechsel, der auf beiden Seiten jungen, erfolgreichen und selbstbewußten Managern in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Geltung verschafft – einem Nachwuchs, der Phrasen skeptisch gegenübersteht, dafür die Wirklichkeit einzuschätzen versteht und nationalbewußter geworden ist.

„Der Weg zur Wiedervereinigung, die nie ohne Zustimmung aller vier Großmächte zustande kommen darf, führte über erweiterten Interzonenhandel, Redneraustausch, Reise- und Sportverkehr“, meinte Konrad Porzner. Wie eines Tages die Lösung der Deutschlandfrage aussehen werde, hänge auch davon ab, wie es der Bundesrepublik gelingt, durch eigene Vertretungen die Furcht in den Ländern des Ostblocks abzubauen.

Verwandte Themen


Keine Kommentare