22. Juli 1967: Abschiedsstunde von Schulbänken

22.7.2017, 07:00 Uhr
22. Juli 1967: Abschiedsstunde von Schulbänken

© Gerardi

Im Oktober, so wurde bereits beschlossen, findet das erste Wiedersehen statt. „Nicht so viel vom Auseinandergehen sprechen“, flüstert mir Rektorin und Klassenleiterin Berta Konrad zu, „sonst gibt es Tränen. Zweimal haben diese Mädchen die lebenden Bilder beim Lichterzug zur Burg während des Christkindlesmarkt gestellt. So etwas bindet doppelt.“ In der Hegelschule geben sich die 33 Achtkläßler von Lehrer Horst Walter gelassener. „Es ist schon schade, daß wir nicht mehr beisammen sind“, meint einer. „Man wird sich schon wieder mal sehen“, wirft tröstend ein anderer ein, und Lehrer Walter, der seine Buben kennt, versichert mir, daß er im nächsten Jahr Samstags wie bisher mit Gästen rechnet: wer wieder einmal im vertrauten Klassenzimmer 14 sitzen will, klopft am sechsten Werktag der Fünftagewoche dort an und geht freiwillig in die Schule.

In der Klasse 10c der Veit-Stoß-Realschule fliegen rund 30 Arme auf die Frage, wer das Ende der Schulzeit bedaure, spontan in die Höhe. Die Mädchen sind aber so ehrlich, zu gestehen, daß sie mehr ihre Nachmittagsfreizeit als dem Unterricht nachtrauern. In einem halben Jahr will sich auch eine gemischte Abiturientenklasse des Willstätter Gymnasiums wiedersehen. „Und wenn wir uns nur gegenseitig wie bisher unsere Sorgen erzählen und einander aufmuntern“, meinen die Organisatoren. „So haben wir es jahrelang gehalten, so wollen wir es beibehalten.“ Vielleicht hat es die männliche Hälfte der Klasse zu diesem Zeitpunkt besonders nötig, denn sie befindet sich um die Jahreswende im „ersten Semester“ bei der Bundeswehr.

22. Juli 1967: Abschiedsstunde von Schulbänken

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Dies sind nur ein paar Skizzen vom Schuljahresende, das für die Absolventen aller Bildungssysteme ein bedeutender Lebenseinschnitt war. Studium, Beruf, Übertritt in eine weiterführende Lehranstalt sind Fragen, die im Elternhaus eingehend erörtert und zu den besonderen Gegebenheiten der derzeitigen Wirtschaftslage ernsthaft in Beziehung gesetzt wurden. Wünsche hier – Forderungen da, die Qual der Wahl blieb keinem erspart.

Als Helfer erwies sich neben den Lehrkräften die Berufsberatung des Nürnberger Arbeitsamtes. Dort waren rund 6.000 offene Stellen für die etwa 3.700 Entlaßschüler der Volksschulen und die 1.300 männlichen Realschüler gemeldet. Nur etwas mehr als die Hälfte der angebotenen Ausbildungsplätze kann vermutlich besetzt werden, weil viele Jungen in weiterführende Schulen übertreten wollen. Begehrt sind Metallberufe aller Art, die Sparte Radio- und Fernsehtechniker, das Kraftfahrzeughandwerk, kaufmännische Berufe und Stellen in der Verwaltung.

22. Juli 1967: Abschiedsstunde von Schulbänken

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Bei den Mädchen gibt es in diesem Jahr 3.700 Entlaßschülerinnen aus Volksschulen, 1.400 aus Real- und Handelsschulen. Ihnen konnte das Arbeitsamt 4.500 freie Stellen nachweisen, von denen voraussichtlich 1.200 bis 1.500 offen bleiben werden. Gewünscht sind kaufmännische Berufe außer Einzelhandel, Verwaltungsstellen, soziale und hauswirtschaftliche Tätigkeiten und erstaunlich oft der Beruf der Bauzeichnerin, der Goldschmiedin und der Zahntechnikerin. Zu kurz dürften der Einzelhandel, die Friseure und die Schneider mit ihren Nachwuchswünschen kommen. Auch bei den Mädchen ließen sich 80 v. H. vom Arbeitsamt beraten, zehn v.H. waren zudem mit einem Test einverstanden.

Viele angehende Lehrlinge und Praktikanten haben sich schon bei ihrem künftigen Arbeitgeber vorgestellt. Die Eignungsprüfungen fanden die meisten Realschüler aus der Veit-Stoß-Schule leichter als erwartet. Den Ingenieurspraktikanten aller Sparten erklärten die Ausbildungsleiter in der Großindustrie jedoch, daß die Zeiten ernst seien und man vom ersten Tag an hohe Anforderungen stellen werde. Auch auf charakterliche Eigenschaften werde man streng achten. Der Ernst des Lebens beginnt. Darüber sind sich die 16- und 17jährigen klar.

Von der Mädchen-Paralellklasse dieser Schule werden die meisten in kaufmännische und Verwaltungsberufe „einsteigen“. Erfreulich ist aber auch, daß soziale Berufe, wie Krankenschwester, Kinderpflegerin, Kindergärtnerin und ähnliche stärker als vor Jahren gefragt sind. Mehrere Mädchen wollen zunächst einmal ein soziales Jahr hinter sich bringen und dann erst die endgültige Wahl treffen.

„Das einzig gute, was nach der Schule kommt, ist das erste selbstverdiente Geld“, tröstete sich und seine Kameraden ein 14jähriger. „Was werdet ihr damit anfangen, ganz ehrlich?“ Meine Frage wird, so will es mir scheinen, nach besten Vorsätzen beantwortet. Rita, angehende technische Zeichnerin, darf von ihren 114 DM die Hälfe behalten, die andere Hälfte kommt aufs Sparbuch. Anderen Lehrlingen und Lehrmädchen habe die Eltern zugesagt, daß sie über ihre gesamten Ausbildungsbeihilfen verfügen dürfen und erst nach Ende der Lehrzeit Kostgeld zahlen müssen.

22. Juli 1967: Abschiedsstunde von Schulbänken

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Die Konsumvorstellungen sind bei den Buben klarer als bei den Mädchen. Einer schwärmt davon, sich einen modernen Anzug anzuschaffen, gegen den niemand etwas einwenden kann. „Von meinem Geld gekauft“, wird er verkünden. Und ein anderer spart schon für ein Auto, „weil man vom Moped doch aufs Motorrad und dann in den Wagen umsteigt“. Es muß ja nicht gleich ein neues Auto sein.

Geld verdienen wollen in den nächsten Wochen auch viele der mit dem Zeugnis der Reife ins Leben entlassenen jungen Damen und Herren. Am Mittwoch veranstalteten sie erstmals einen gemeinsamen Abitur-Ball aller Nürnberger Gymnasien in der Meistersingerhalle. Es war ein schönes Fest, stilvoll, elegant, der Bedeutung des Ereignisses angepaßt. Man sollte diesen Galaabend in Nürnberg zur Tradition werden lassen.

Den Nachweis, an Deutschlands hohen Schulen studieren zu dürfen, haben die Zwanzigjährigen nun in der Tasche, aber zuvor beansprucht sie Deutschlands Bundeswehr für 18 Monate. „Am 2. Oktober um 14 Uhr werden wir in Bayreuth sein, um unsere 18 Monate wegzumachen“, kündigen Gerhard F.B. Meyer und Wolfgang Gräfensteiner an. Im Sommersemester 1969 wollen sie sich nach der Erfüllung vaterländischer Pflichtaufgaben als Studenten der Germanistik und der Jurisprudenz immatrikulieren lassen.

22. Juli 1967: Abschiedsstunde von Schulbänken

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Alfred Gareis, der sich etwas zu spät zum Medizinstudium entschlossen hat, weiß noch nicht, wohin er zu den Fahnen gerufen wird. Medizinstudenten werden nämlich vom Soldatendienst zurückgestellt. Hans-Dieter Lersch, der diesen Berufswunsch bei der Musterung angab, bemüht sich inzwischen um eine Studienplatz an einer medizinischen Fakultät irgendwo im Bundesgebiet. Der Numerus clausus bereitet ihm nicht weniger Kummer als anderen Abiturienten die Soldatenzeit. Bis zum Semesterbeginn wird Hans-Dieter Lersch Bier ausfahren.

Den mit finanziellen Vorteilen verbundenen zweijährigen Wehrdienst gibt es nicht mehr. Wer auf die „Schnelle“ Leutnant werden will, muß drei Jahre dienen. So weit wollen sich die meisten Abiturienten nicht von ihrer in der Schule gelegten Studienbasis entfernen. „Lieber Konsumverzicht zugunsten des Studiums“ heißt die Devise. Ganz diskret , als Kavaliere vom Scheitel bis zur Sohle, lassen die Herren Abiturenten durchblicken, daß ihre ehemaligen Klassenkameradinnen drei Semester voran sind, wenn sie auf die Uni zusteuern. „Wie wäre es da mit einem Ersatzdienst“, höre ich, und Hannelore Säckl, ab Herbst Erstsemester in Psychologie in Erlangen, kontert: „Zugegeben, sie haben es schlechter, aber was würde es ihnen nützen, wenn wir Ersatzdienst machten?“ Und sie lächelt so charmant, daß niemand widerspricht.

Dann kommen wir auf die Studentenunruhen in jüngster Zeit zu sprechen. Abiturenten des Jahrgangs 1967 – wir könnten nicht alle fragen – stellen sich vor, man könnte für positive Belange auf die Straße gehen, etwa für eine Verkürzung der Wehrzeit um ein halbes Jahr. „Aber nur gegen den Schah, was soll es?“. „Etwas Brauchbares müßte bei derartigen Dingen herauskommen“, heißt die rationale Überlegung.

Mit Politik hält es der Jahrgang 1967 nicht besonders. „Wir wollen wachsam sein, etwas werden, und dann eventuell einsteigen. Der Beruf geht heutzutage vor.“ Auf einmal viel Geld verdienen, schnell, schneller, am schnellsten, scheint auch nicht mehr gefragt zu sein. Derartige Karriere-Ritter gibt es in unserer Klasse nicht, erfahre ich bei mehreren Gesprächen. Und dann gibt es junge Männer, die von hübschen Mädchen schwärmen, sich aber vor einer festen Bindung bewußt hüten. „Es geht um unseren Beruf, wir möchten uns nicht ablenken lassen!“ Fazit eines Abiturballes: Wer sein Ziel vor Augen hat, steuert unbeirrt darauf zu.

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