23. September 1966: Zu viele "Kostgänger"

23.9.2016, 07:00 Uhr
23. September 1966: Zu viele

© Gerardi

Mit Beginn des Winterfahrplanes am 25. September läßt sie im Hauptbahnhof wieder die Fahrkarten an der Ausgangssperre kontrollieren, nachdem diese Schranke erst im Dezember vergangenen Jahres geöffnet worden war. Der Grund: bei Stichproben sind zahlreiche "blinde Passagiere" entdeckt worden, mit denen die Bahn noch tiefer in das Defizit gefahren ist.

Damit ist in Nürnberg, die einzige Station von insgesamt 660 Bahnhöfen und Haltepunkten im DB-Bezirk, an der die Fahrgäste beim Verlassen der Züge ihre Karten vorzeigen müssen. "Uns ist die Entscheidung nicht leichtgefallen", bedauert Oberrat Ernst Hotsch, "aber die Einbußen waren gegenüber dem Rationalisierungseffekt doch zu groß."

Der Dezernent für den Personenverkehr nennt die Verluste gravierend. Diese "bedauerliche Feststellung" kann er mit handfesten Zahlen belegen: bei einer zweistündigen Kontrolle an der Ausgangssperre im Hauptbahnhof ist beispielsweise die Zahl der Fahrkarten-Nachlösungen von fünf auf 44 gestiegen. "Das hat uns zu denken gegeben", meint Oberrat Hotsch. Bei einer Stichprobe in einem anderen Bahnhof war es ähnlich: dort kletterten die Nachlösungen an einem Tag sogar von null auf 52.

Heuer schon 522 Strafanzeigen

Die üble Tour vieler Reisenden, kostenlos eine Bahnfahrt zu unternehmen, haben die fünf Verkehrsämter im Bereich der Bundesbahn-Direktion Nürnberg zu spüren bekommen. Während sie im ersten Vierteljahr 1965 nur 241 Strafanzeigen wegen Fahrgeld-Hinterziehung zu erstatten brauchten, belief sich diese Quote in den ersten drei Monaten dieses Jahres bereits auf 522. "Das ist verdrießlich und erfordert einen immensen Papierkrieg", erklärt der Oberrat.

Das Gros der 40.000 Reisenden, die täglich im Nürnberger Hauptbahnhof ankommen, wird von dem Dezernenten in Schutz genommen. Nach seiner Meinung sitzen die "schwarzen Schafe" nicht in den Zügen des Fern-, sondern in den Wagen des Nahverkehrs. Wenn sie ertappt werden verfallen sie auf die abenteuerlichsten Ausreden: viele wollen ihre Geldbörse verloren haben, andere sind vom Schaffner "einfach übersehen" worden oder haben trotz "intensiver Suche" den Nachlöseschalter nicht gefunden. Einige "Minuskavaliere" umgehen die Zugkontrollen, indem sie von einem Abteil in das andere laufen oder sich in den Toiletten verstecken.

Kontrollen werden verstärkt

Die Ausgangssperre im Hauptbahnhof wird deshalb ab Sonntag im 24stündigen Dienst mit 35 Beamten besetzt, weil hier das größte Reiseaufkommen und demnach auch die höchste Dunkelziffer zu verzeichnen ist. "Der Personalmangel verbietet es uns", so argumentiert Oberrat Hotsch, "auch an den übrigen Bahnhöfen und Haltestellen wieder die Fahrtausweise zu prüfen." Das wird jedoch die Dienststellenleiter nicht daran hindern, von Fall zu Fall die Sperre "herunterzulassen". Im übrigen sollen die Kontrollen in den Zügen verstärkt und mehr Zugrevisoren in Zivil eingesetzt werden.

Der Arbeitskräftemangel hat auch die Bundesbahn veranlaßt, mit Beginn des Winterfahrplanes die Fahrkarten beim Betreten der Bahnsteige nur noch in 26 der zusammen 660 Bahnhöfe im Direktionsbereich zu prüfen. Damit ist die Eingangskontrolle bisher bei 96,1 Prozent aller Personenverkehrsstellen aufgehoben worden. Aber hier ist noch eine Sicherung eingebaut: die Sperren sind nur dort nicht besetzt, wo der Beamte mühelos seine Gäste übersehen und dann "Billigfahrer" gleich zur Kasse bitten kann.

Um den Reisenden das Lösen von Fahrkarten zu erleichtern, will die Bahn ein neues System einführen: an die zuschlagfreien Züge sollen Schaffnerwagen angehängt werden, von denen die Fahrgäste über Lautsprecher aufgefordert werden, ihren Obolus zu entrichten. Wenn die geplanten Versuche in München, Stuttgart, Frankfurt und Köln erfolgreich verlaufen, soll dieser Kundendienst auch in Nürnberg eingeführt werden.

Verwandte Themen


Keine Kommentare