24. September 1966: Amerika "entdeckt" die Schiene

24.9.2016, 07:00 Uhr
24. September 1966: Amerika

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Der Oberbürgermeister und die Stadträte wandelten auf den Spuren von Frankfurter und Münchner Kollegen, die vor ihnen schon in das Mekka der modernsten Schnellbahnen gereist waren, und erkauften sich neue Einsichten mit arbeitsreichen Tagen.

Sie haben ganze Rucksäcke voll von Anregungen und ganze Berge von Fachliteratur mit nach Hause gebracht. Wieder in Nürnberg gelandet, mußten die Stadtväter freilich hören, daß es viele Kreise der Bevölkerung lieber gesehen hätten, wenn sie den Flug in die USA nicht genau zu einem Zeitpunkt angetreten hätten, zu dem die Stadt ein ernstes Sparprogramm verkünden mußte. Vielleicht aber gibt dieser Bericht über die Reise, die alles andere als ein Vergnügen war, eine Eindruck davon, wie ernst die Stadträte ihre Aufgabe jenseits des Ozeans genommen haben.

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Die Cable-Car-Bähnchen in San Franzisko, die an einem Drahtseil über die Hügel der Stadt gezogen werden, scheinen mit jedem Bimmeln ihr eigenes Grabgeläut anzustimmen. Während die Amerikaner – im wahrsten Sinne des Wortes – noch an ihnen hängen, haben 600 Ingenieure bereits für das große Wohngebiet um die Bucht am Pazifik die Pläne für die „modernste Schnellbahn der Welt“ fix und fertig in der Schublade liegen. Bis 1971 sollen Wagen mit einem für Europäer unvorstellbaren Komfort (Ledersitze und Klimaanlagen) über ein Netz von 120 Kilometern rollen – unter dem Wasser, über der Erde und neben dem unendlichen Fahrzeugstrom auf den Straßen.

"Zurück zur Schiene"

Der Ruf des ermordeten Präsidenten Kennedy „Zurück zur Schiene“ hat bei der Bevölkerung der „schönsten Stadt in den USA“ ein starkes Echo gefunden. In einem Volksentscheid hat sie steuerliche Lasten von fünf Cent je 100 Dollar Vermögen und Jahr auf sich genommen, damit das Projekt von 1,2 Milliarden Dollar gebaut werden kann. Die "Bay Area Rapid Transit", wie die Schnellbahn heißen wird, soll ein Modell für ganz Amerika darstellen. Obwohl die Vereinigten Staaten von Amerika seit zehn Jahren ein Autobahnnetz über 65.000 Kilometer für 50 Milliarden Dollar bauen, hat sich dort die Erkenntnis durchgesetzt, daß Straßen allein die Verkehrsnot nicht zu lindern vermögen, wenngleich sie längst nicht so verstopft sind wie in Deutschland. San Franzisko ist nur ein Beispiel für viele Städte, die ihre Geschäftszentren am Leben erhalten wollen und neue Wege dorthin schaffen.

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Gut 12.000 Kilometer fern der Heimat sahen sich die Nürnberger genau an der richtigen Adresse, um Erfahrungen für ihre eigenen Schnellbahnpläne zu sammeln. San Franzisko will nicht nur das Fahrgeld automatisch kassieren, sondern auch die Wagen elektronisch steuern. Seit 13 Jahren zerbrechen sich dort Forscher in Ingenieurbüros und weltbekannten Elektrofirmen den Kopf darüber, wie und wo überall Personal gespart werden kann. Während noch die Tunnels in der Bucht versenkt und Bergmassive angebohrt werden, glaubt der stellvertretende Generaldirektor der Schnellbahn bereits frohlocken zu dürfen: "Wir werden bei jährlichen Betriebskosten von 13 Millionen einen Gewinn von zehn Millionen Dollar machen!"

Geschenkte Wagen

In Amerika fahren die öffentlichen Verkehrsbetriebe scheinbar nicht so sehr durch einen Wald von roten Zahlen wie hierzulande, aber dieser Schein trügt. In New York wie auch in San Franzisko oder im kanadischen Toronto kommen sie bei einem geringeren Fahrpreis mit weniger Verlust aus, weil ihnen Anlagen und auch Wagen von den Städten gestellt werden. Wenn New York beispielsweise in diesem Jahr 600 neue Omnibusse für 23 Millionen Dollar und 300 neue U-Bahn-Wagen erhält, so schlägt sich das in der Bilanz der Verkehrsbetriebe nicht mit einem Cent nieder. Auf die Frage "Was machen Sie, wenn die Stadt kein Geld hat?" antwortete Generaldirektor Schlager eiskalt: "Irgendwo muß irgendwer etwas haben"!

Trotz der großherzigen Geldgeber bleibt den amerikanischen Verkehrsbetrieben nichts anderes übrig, als ständig die Fahrpreise zu erhöhen. In New York wurden sie in diesem Jahr von 15 auf 20 Cent hochgeschraubt, in Toronto mit einer nagelneuen U-Bahn sogar rückwirkend erhöht und in San Franzisko hohe Verluste über Steuern abgedeckt. Die Traumstadt am Pazifik müßte beispielsweise für jede Fahrt 24 statt 15 Cent verlangen, aber das will die Geschäftswelt nicht, die zu befürchten hätte, daß ihre Kundschaft ausbleibt und zu den Shoping-Centers abwandert. Die Besitzer der Läden im Zentrum lassen sich deshalb lieber höhere Steuern aufbrummen, als diese Gefahr zu laufen.

Überhaupt sind die amerikanischen Behörden nicht zimperlich, wenn es gilt, den Bürger zur Kasse zu bitten. Kein Autofahrer darf den Tunnel unter dem East River nach Manhattan passieren, ohne 25 Cent bezahlt zu haben, Straßen- und Brückenzölle sind an der Tagesordnung. Will eine Gemeinde ein neues Schulhaus oder – wie in San Franzisko – eine Schnellbahn bauen, läßt sie das Volk entscheiden und berappen. Ein Familienvater mit vier Kindern hat uns vorgerechnet, daß er bei einem Gehalt von 15.000 Dollar im Jahr 1.200 Dollar Einkommensteuer an den Bund, 900 an den Staat und eine Abgabe von 300 Dollar an die Stadt leisten muß und gab damit einen Einblick in das undurchsichtige Steuersystem.

24. September 1966: Amerika

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Die vielgerühmte Freiheit in der Neuen Welt hat ebenfalls mancherlei Grenzen. Bei der Schnellbahnplanung für den Großraum San Franzisko schert sich der kalifornische Staat ebenso wenig um Gemeindegrenzen ("Wir haben überall freie Hand", sagt einer der verantwortlichen Männer) wie die Bundesregierung beim Bau der Express-Ways mit zehn Fahrbahnen und 30.000 Wagen pro Stunde in einer Richtung in der Stadt Chikago. Wird hier die Raumordnung nicht nur auf dem Papier betrieben, sondern stahlhart praktiziert, so wird dort erst einmal enteignet und in aller Ruhe der Prozeß abgewartet.

Das "reiche Amerika" leistet sich auch manchen Luxus nicht, der uns gar nicht als solcher erscheint. Mit großen Augen schauten die Nürnberger Stadträte auf einen See mit 150 Milliarden Liter Wasser, in dem ein Monatsvorrat der New Yorker Trinkwasserversorgung ruht. Wer immer mag, kann hier ein Faß Öl ausgießen und damit einen tödlichen Schlag gegen den Lebensnerv der Millionenstadt führen, die auf den See hinter dem einstmals größten Staudamm der Welt auf Gedeih und Verderb angewiesen ist.

In Chikago wird das Trinkwasser kurzerhand aus dem Michigansee in die Leitung gepumpt und war bis vor wenigen Jahren nicht einmal filtriert worden. "Die USA können uns kein Vorbild für die Trinkwasser-Qualität sein", meinte denn auch Generaldirektor Dr. Josef Ipfelkofer, der weiterhin viel Geld dafür ausgeben will, daß die Nürnberger ihren guten Ranna-Sprudel, wenn auch künftig von der Donau, erhalten.

Nicht ganz unumstritten bleibt die Art, wie die Amerikaner bei der Stromverteilung Geld, ja sogar viel Geld sparen. Wird in Nürnberg jedes Stückchen Kabel fein säuberlich in den Boden eingegraben (und ist bei einem Schaden entsprechend schwer zu finden), so hängen sie ihre Leitungen einfach an Masten. Auf all seinen Wegen durch die Vereinigten Staaten wird der Autofahrer von solchen "Girlanden" begleitet, die nicht dazu beitragen, das Landschaftsbild zu verschönern. "Als wir so etwas den Buchenbühlern vorschlugen, wären wir fast gesteinigt worden", erzählte Professor Ipfelkofer, ohne freilich zu verkennen, daß unsere Vorstädte ein ganzes Stück lieblicher aussehen als ihre Gegenstücke über dem Ozean.

Da möchten wir "The American Way of Life" schon eher an anderen Stellen angewandt sehen. Die Parkhäuser müssen sich dort nicht hinter Fassaden verstecken, die hierzulande oft recht fadenscheinig wirken; die großen Brücken über die Verkehrsbauwerke brauchen nicht auf Hochglanz poliert zu sein, sondern dürfen in schlichtem Beton erscheinen, in die Express-Ways sind vorsorglich Grünstreifen eingelassen, die später in Fahrspuren umgewandelt werden können; die Autofahrer vergessen im größten Gewühl der Innenstädte nicht, daß es noch Fußgänger gibt und bremsen freundlich winkend vor den Passanten. In diesen Fällen läßt sich wirklich sagen: "Amerika, du hast es besser."

Ansonsten bleibt abzuwarten, was der Oberbürgermeister und die Stadträte für jene fünf Koffer voll Nürnberg-Bücher und Lebkuchen als Gastgeschenke aus der Neuen Welt mitgenommen haben. An unsern Straßen werden wir`s erkennen.

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