26. Mai 1965: 1000 Stimmen am Hauptmarkt

26.5.2015, 07:00 Uhr
26. Mai 1965: 1000 Stimmen am Hauptmarkt

© NN

In einer Protestvorlesung wiederholte die Studentenvertretung gestern abend auf dem Hauptmarkt die Forderungen, die Prodekan Prof. Dr. Hans Linhardt und Prof. Dr. Horst Claus Recktenwaldt, Raum- und Planungsreferent der 6. Fakultät, am 10. Mai gestellt haben. Professoren und Studenten wollen einen Neubau der Fakultät am künftigen Wöhrder See, obwohl der Stadtrat schon im Sommer 1964 beschlossen hat, daß das Seeufer Grünland bleiben soll. Als einzige Alternative würden sie das vielerörterte Gelände an der Regensburger/Scharrerstraße annehmen. Dagegen lehnen die Studenten einen Standort der Fakultät am Wetzendorfer Espan wegen der Entfernung zur Innenstadt und der angeblich ungünstigen Verkehrsbedingungen rundweg ab.

Es scheint jedoch so, als ob der Stadtrat dem Grundstück im Norden den Vorzug geben wolle. Es bietet für künftige Erweiterungen und auch für mögliche andere Institute die besten räumlichen Voraussetzungen. Mit Transparenten, Buh-Rufen und schrillen Pfiffen unterstrichen rund 1.000 Studenten die Forderungen des Vorsitzenden der Studentenvertretung, Kristian Schneider, des Sprechers des Studentenparlaments Erlangen, Norbert Herz und von Professor Dr. Klaus Vogel, die einstimmig als Standort der neuen Fakultät das Wöhrder Seeufer oder das Gelände Regensburger/Scharrerstraße nannten.

Nachdem man offensichtlich in den letzten Wochen und Monaten eingesehen hat, daß das „Projekt Wöhrd“ ein Wunschtraum ist, legten alle drei Redner ihr besonderes Interesse auf die zweite Lösung: Scharrerstraße. Studenten und Professoren sehen diese Alternative als günstige Entscheidung an, weil das Gelände das „Nürnberger Kulturzentrum“ ist und durch die Fakultät bereichert werden könnte. Deshalb galten gestern abend die Protestrufe vor allem den Sprechern innerhalb des Stadtrates, die für den Bau eines Straßenbahndepots an der Scharrerstraße plädieren.

Mit der erwarteten Schärfe wandten sich die Vertreter der Studenten und auch Professor Dr. Vogel gegen eine Verlegung der Fakultät an den Wetzendorfer Espan. Harte Worte fielen dabei, wie „kulturelles Krautland“, „Isolierung der Studentenschaft“. Auf einem Plakat konnte man die Meinung der jungen geistigen Schicht Nürnbergs schwarz auf weiß lesen: „Universitätsstadt auf dem Dorf – Kopf ohne Rumpf.“ Rund ein Dutzend Stadträte aller Fraktionen, die sich unter das junge Volk gemischt hatten, wurden mit weiteren Sprüchen konfrontiert: „Ist der Stadtrat gegen Studenten in Nürnberg?“ oder „Nürnberg „plant und baut aber keine neue Universität“ oder „Nürnberg – Universitätsstadt? Ein Witz!“

"Nicht nach Wetzendorf"

Norbert Herz klärte seine Kommilitonen über die Gründe auf, weswegen die Fakultät in Wetzendorf für die Studentenschaft und die Professoren unzumutbar ist. Er betonte, wie vor ihm schon Prodekan Professor Dr. Hans Linhardt und Professor Dr. Horst Recktenwaldt, eine von einer Industriestadt abgesonderte Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät sei für die durch praktische Erfahrungen zu vertiefende Arbeit späterer Ökonomen unvorteilhaft. Gerade Nürnberg als wirtschaftlicher Mittelpunkt Nordbayerns gebe den Wiso-Studenten mannigfaltiges Rüstzeug für das spätere Berufsleben mit. Deshalb wollen sie in Nürnberg selbst bleiben. „Nicht nach Wetzendorf“, verlangten sie auf einem weiteren Transparent. Die „Begegnung mit den Realitäten“ sei eine ständige Inspiration, die sie nicht entbehren wollen.

„Ganz abgesehen davon“, führte Kristian Schneider an, „muß die Stadt die ungünstigen Verkehrsbedingungen zwischen der City und dem Wetzendorfer Espan erwägen.“ Man könnte es den Kommilitonen nicht zumuten, täglich auf die Straßenbahn oder den Omnibus angewiesen zu sein, wenn diese öffentlichen Verkehrsmittel 30 Minuten oder gar noch länger zwischen der Wohnung und der Fakultät verkehren.

Die Studentenvertretung befand sich gestern abend in einer Kampfstimmung. Sie erklärte das damit: „Wir brauchen eine baldige Entscheidung, weil wir sonst Zweifel daran hegen, daß der Staat Bayern die laut Fusionsvertrag mit der Stadt zugesicherten 50 Prozent für die Finanzierung der Fakultät nicht mehr aufbringen kann.“ Die Studentenvertretung glaubt, daß die Universität in Regensburg und die medizinische Akademie in Augsburg in den nächsten Jahren viele Millionen Mark verschlingen, so daß für Nürnberg nicht mehr viel übrig bleiben würde. „Und außerdem wollen wir aus unseren engen und in der ganzen Innenstadt verstreuten Unterrichtsräumen heraus.“

In einer Pressekonferenz vor der Kundgebung erwähnten die Sprecher, daß die SPD-Stadtratsfraktion am Freitag in der außerordentlichen Stadtratssitzung als Standort der Fakultät den Norden Nürnbergs vorschlagen wird. „Das ist die Mehrheit des Gremiums“, stöhnte Professor Dr. Eugen H. Sieber. Vielleicht war darauf die Entschlossenheit der Studentenvertretung zurückzuführen, die erklärte: „Wenn es für die Stadt den Wetzendorfer Espan als einzigen Standort der Fakultät gibt, wollen wir Mittel und Wege finden, den Fusionsvertrag zwischen der Stadt und dem Staat zu lösen und nach Erlangen ziehen, so sehr es uns auch in Nürnberg gefällt.

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