27. August 1966: In luftiger Höhe über der Stadt

27.8.2016, 07:00 Uhr
27. August 1966: In luftiger Höhe über der Stadt

© Eißner

Es wird diesen Männern kaum bewußt, daß ihr Leben oft nur an einem dünnen Seil hängt. Nur beim Anblick ihres Lohnstreifens erinnern sie sich an das Vabanquespiel, wenn sie die Rubrik „Gefahrenzulage“ überfliegen. Aus respektvoller Entfernung haben wir einmal den Artisten unter den Arbeitern auf die Finger geschaut. Mit stoischer Ruhe quittieren sie das Posespiel für den Photographen. Lächelnd beantworten sie bohrende Fragen, während uns allmählich die Knie immer mehr weich und die Hände feucht werden.

Schwindelig? „Ich weiß gar nicht, was das ist“, ruft uns der 35 Jahre alte Kranführer zu. Er muß seine Stimmbänder strapazieren, denn er sitzt in 72 Meter Höhe lässig vor einem komplizierten Schaltpult mit vielen Knöpfen und Hebeln, während wir gegenüber auf dem Dach eines Neubaues in Neuselsbrunn stehen. Sechzig Meter trennen uns vom sicheren Boden. Dazwischen liegen zwanzig Stockwerke, in die um die Weihnachtszeit hundert Familien einziehen sollen.

27. August 1966: In luftiger Höhe über der Stadt

© Eißner

Der Kranführer, der noch zwölf Meter über dem Mammuthaus thront, kann mit jedem Löffel zwei Tonnen in die Höhe befördern. Wohin? Das weiß er zunächst selbst nicht. Denn bei einem Gebäude mit solchen gigantischen Ausmaßen erhält er über Sprechfunk seine Befehle. Gewissermaßen im Blindflug schwingt er Beton und Stahl empor. „Auf zehn Zentimeter schaffe ich es genau“, verkündet er stolz aus seiner windigen Unterkunft, die er höchstens mittags einmal verläßt. Zur Brotzeit rentiert sich das nicht, denn bis er die Leiter im Turm heruntergeklettert ist, vergehen zehn kostbare Minuten.

Kranarme schwanken

Von einem sicheren Gefühl kann in über 70 Meter Höhe nicht die Rede sein. Selbst bei der leichtesten Brise schwanken die Arme des Kletterkrans bis zu 50 Zentimeter hin und her. Gefährlich wird es erst, wenn der „Roboter“, der bis zu 45 Meter frei stehen kann und über dieser Grenze mit dem Bau fest verankert werden muß, eingefahren wird. Zusammen mit drei Monteuren muß dann der Kranführer sein Steuerpult verlassen, Schrauben und Plomben lösen und über schmale Eisenträger balancieren. Trotz Sicherheitsgurte und Fangleinen bleibt diese Arbeit ein riskantes Unternehmen. Bis das gefährliche Spiel beendet ist, vergehen immerhin zwölf Stunden.

27. August 1966: In luftiger Höhe über der Stadt

© Eißner

Auch der Polier und die Bauarbeiter, die in sechs Wochen 340 Tonnen Stahl und 15 000 Kubikmeter Beton in dem Koloß „verstaut“ haben, sind nicht zu beneiden. Mit jedem Tag müssen sie höher hinaus. Wer ihnen zuschaut, hält sich oft die Augen zu: elegant schlendern sie über die schmalen Gerüste, nageln Wandplatten an oder werfen schwungvoll den Speis gegen die Mauern. Wenn es gar nicht anders geht, halten sie sich einmal fest, meist aber nur mit einem Bein an dem Rohrgestänge. Schmeckt denn das Bier dort oben? Humorvoll schleudern sie die Antwort herunter: „Es kommt darauf an. Wenn es Freibier ist, bestimmt!“

Gefährlicher sieht es schon beim Dachdecker aus, der stehend freihändig über den First läuft. Er überquert das Dach von einem Schenkel zum anderen und schleppt sich sein Material herbei. Es scheint ihm gar nicht bewußt zu sein, daß es an beiden Seiten fünf oder zehn Meter senkrecht in die Tiefe geht. Aber wer genauer hinschaut, bemerkt die Sicherheitsvorkehrungen. In regelmäßigen Abständen ragen Dachhaken unterhalb des Firstes hervor, in die er seine Leiter einhängen kann.

Schlotfeger nur noch wenig am Klettern

Der Schlotfeger, der sich ebenfalls die meiste Zeit seines Arbeitslebens zwischen Himmel und Erde bewegt, lächelt mitleidig, wenn er auf die Gefährlichkeit seines Berufes angesprochen wird. Die meisten Kamine, die er zu betreuen hat, versorgt er ohnedies vom Dachboden aus. „Die Mehrzahl der Schornsteine ist gut zu erreichen“, meint Obermeister Albert Gsänger, „da brauchen wir nicht auf das Dach.“ Klettertouren wie in früheren Zeiten müssen seine Leute in den 54 Nürnberger Kehrbezirken nur noch auf wenigen Hochhäusern und einzelnen Gebäuden in der Altstadt unternehmen, wo die Kamine an den Außenwänden angebracht sind. In den Wohnblocks, die an eine Fernheizung angeschlossen sind, haben die Glücksbringer nichts verloren. „Die paar unbenutzten Reservekamine dort brauchen wir nur nachzuschauen“, betont der Obermeister.

„Trotzdem wird unsere Arbeit nicht leichter“, stöhnt Albert Gsänger, „weil die technische Seite des Berufes schwieriger wird“. Die Schornsteinfeger haben heute nicht nur Kamine zu reinigen, sondern auch die Heizöllager zu überwachen, die genauen Heizwerte zu ermitteln und nachzusehen, ob es auch mit dem Brenner stimmt. In gleichem Maße, wie diese Anforderungen steigen, nimmt die körperliche Anstrengung der Schlotfeger ab.

Ein anderer Mann, der an einem Fabrikhochhaus entlang schwebt und von seinem Fahrstuhl aus wegen der verschobenen Perspektive keinen Gefallen an den Miniröcken der Tippfräuleins finden kann, raucht in aller Ruhe eine Zigarette, während er das Leder ins Wasser taucht und die großen Fensterscheiben abwäscht. „Eine Gondel wie hier haben wir höchst selten“, stellt der 36 Jahre alte Glas- und Gebäudereiniger resigniert fest. Offen nennt er auch den Grund: „Einige Firmen und fast alle Behörden geben sich recht knauserig, wenn sie die Aufträge verteilen.“

Wenn die 14 Meter hohe Leiter nicht mehr ausreicht, muß er sich an die Außenfassade hängen. „Sicherheitsgurte sind viel zu kurz“, ärgert er sich, „denn an die Geländer im Treppenhaus kann man sich nicht anhängen“. „Oft halten mich auch meine Kameraden. Aber wenn ich wirklich abrutschen sollte, können sie mich bestimmt nicht retten.“ Natürlich ist er schwindelfrei. Bei seiner gutbezahlten Tätigkeit – die Stunde bringt immerhin vier Mark und mehr – schaut er lieber auf den Boden. „Wenn ich die Wolken betrachte, werde ich verrückt“, bekennt er.

Obwohl der Mann genau weiß, daß er ständig mit einem Bein im Grab steht, will er seinen gefährlichen Beruf nicht aufgeben. Unzufrieden ist er nur mit den Architekten, die Treppenhäuser mit 25 Meter hohen Glasfassaden ohne ein einziges Fenster bauen. „Sollen wir uns wie Bergsteiger abseilen?“, fragt der Mann vorwurfsvoll. Wenn es eine solche Partie zu wienern gilt, weigern sich die meisten Arbeiter. „Als Meister bleibt mir nichts anderes übrig, als selbst hinauszusteigen“, gesteht der 36jährige. Auch in seinen eigenen vier Wänden übernimmt er die Pflege der Fenster. „Meine Frau kann es nicht so gut wie ich“, gibt er lächelnd als Grund an.

Tag für Tag arbeiten Hunderte von Leuten in mehr oder minder schwindelnden Höhen. Sie sind die Akrobaten unter den Lohnempfängern. Obwohl sie höchst unterschiedliche Aufträge zu erfüllen haben, ist ihnen doch eines gemeinsam: sie nehmen die Gefahr nicht ernst, in der sie ständig schweben. Berufsrisiko nennen es die meisten.

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