27. November 1965: Leben wird immer teurer

27.11.2015, 07:00 Uhr
27. November 1965: Leben wird immer teurer

© Gerardi

Es fällt stark ins Auge, wenn das Kilo Chicoree in diesem Jahr 3,80 DM statt drei Mark kostet, wenn das Pfund Schweinekotelett nur noch für 4,75 statt vier DM zu bekommen ist und die Navelorangen zu zwei statt 1,10 DM gehandelt werden. Aber auch weniger offensichtliche Preiserhöhungen von nur einigen Pfennigen gehen ins Geld. Was billiger wird, fällt bei der steigenden Ausgabenflut kaum noch ins Gewicht.

Im amtlichen Marktbericht von der Mitte dieser Woche finden sich 19 Positionen mit höheren Preisangaben als genau zur gleichen Zeit vor einem Jahr. Mit 90 Pfennigen halten die Orangen die Spitze, doch auch die Äpfel stehen ihnen mit 80 Pfennigen mehr kaum nach. Sogar das Sauerkraut hat um 20 Pfennige „angezogen“. Wenn dafür der Rosenkohl im Kilo um zehn Pfennige billiger wird wie das Weißkraut und der Wirsing, so ist das noch lange kein Grund zum Aufruf: „Eßt mehr Obst und Gemüse und euer Geldbeutel bleibt gesund!“

27. November 1965: Leben wird immer teurer

© Gerardi

Der gute Rat der Hausfrauenverbände und Verbraucherorganisationen, bei steigenden Preisen für bestimmte Lebensmittel einfach auf andere auszuweichen, hat in diesen Tagen nur ganz selten noch einen Sinn. Schließlich wird man niemandem zumuten können, jeden Tag Rosenkohl, Weißkraut oder Wirsing zu essen, nur weil dieses Gemüse einen Groschen billiger ist als im November 1964. Vom Preissturz beim Meerrettich um 60 Pfennige ist kaum zu erwarten, daß die Haushaltskassen weniger schnell zusammenschrumpfen. Denn was wäre schließlich der Meerrettich ohne Rindfleisch, das wiederum schon ein kleines Vermögen kostet. So bleibt die Lage für die Hausfrau zum Weinen – auch ohne eine kräftige Prise Meerrettich.

Selbst noch die kleinen Gaumenfreuden werden dem Zeitgenossen durch die Preislawine vermiest. Der Thunfisch in der Dose muß um zehn Pfennige teurer eingekauft werden als noch vor 12 Monaten; beim konservierten Lachs ist es nicht besser. Ein harter Schlag gegen die Geldbeutel kinderreicher Familien wurde erst vor zwei Monaten geführt, als der Liter Milch um zwei Pfennige heraufgesetzt wurde.

Finster sieht es auch für Kaffeetanten aus, denn sie müssen zwischen 36 und 43 Pfennig berappen, um ihr Getränk mit Dosenmilch aufzuhellen. Wer all dieses Trübsal vergessen und sich in gute Stimmung versetzen möchte, kann eine Flasche Wein im Durchschnitt nur um 50 Pfennige teurer erwerben, als um die letzte Jahreswende. Bayerns Nationalgetränk, das Bier, ist gerade noch einmal davongekommen, aber es fragt sich: wie lange noch? Das Essen frißt so viel vom Haushaltsgeld der Familie, daß für Einkäufe größeren Stils kaum noch etwas übrig bleibt. „Bei Familien mit kleinem Einkommen wird zuviel für Wohnung, Ernährung und persönliche Ausgaben verbraucht, so daß nicht genügend Mittel für Kleidung vorhanden sind. In finanziell besser gestellten Haushalten ist der Anspruch auf modische Kleidung – teils aus Berufsgründen, teils aus Prestige – so groß, daß das dafür vorgesehene Geld nicht ausreicht“, zu diesem Schluß kommt Hildegard Kerner, die Budgetberaterin des Vereins Nürnberger junge Hausfrauen.

Sie hat die Finanzpläne von 378 Haushalten studiert und dabei interessante Ergebnisse zutage gefördert. Nicht ganz die Hälfte (174) haben kein großes Einkommen und müssen sich monatlich mit weniger als 50 DM für Kleidung bescheiden; 132 Haushalte verwenden dafür Beträge zwischen 50 und 100 DM; 52 verdienen mehr als 800 DM und geben für Kleidung daher auch über 100 DM aus. Es ist selbstverständlich, daß sich Familien mit mehr Kindern stärker nach der Decke strecken müssen als kinderlose Ehepaare.

Trotz solcher Ebben in der Haushaltskasse sind die organisierten Frauen um eine Antwort nicht verlegen, wenn sie einer darum angeht. Zuvorderst geben sie ihren „Kunden“ zu bedenken, welche Weisheit der alte Philosoph Sokrates von sich gegeben hat. „Wie viele Dinge gibt es doch auf dieser bunten Welt, die ich nicht brauche“, rief er aus, als er mit seinen Schülern am Hafen von Piräus stand und beobachtete, wie ungeheure Mengen der verschiedensten Waren auf Schiffen verstaut wurden. Die prallvollen Auslagen der Geschäfte und Regale der Selbstbedienungsläden liegen freilich vielen Hausfrauen näher als die philosophische Weisheit. Man greift eben zu – und staunt später über die Rechnung.

Bei größeren Anschaffungen lautet das Motto der Weiblichkeit mit eigenem Vereinsleben: „Barkauf ist Sparkauf“. Es wird empfohlen, den gewünschten Fernsehapparat noch ein Weilchen im Geschäft stehen zu lassen, die Pfennige zusammenzukratzen und erst dann mit klingender Münze zu kaufen. Da bleibt nur die Frage, ob es der Hausfrau gelingt, „Schmugeld“ zur Seite zu bringen.

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