29. Mai 1966: Begegnung mit der Geschichte

29.5.2016, 07:00 Uhr
29. Mai 1966: Begegnung mit der Geschichte

© Gerardi

Ein Spaziergang um den Ring ist heutzutage um so interessanter, als die Nürnberger noch nie so dicht an den Wall herankommen konnten. Neue Wege sind ihnen in die Geschichte der Stadt Nürnberg erschlossen worden.

Mit einer Fahrt auf der Rolltreppe vom Bahnhofsplatz hinab zum Stadtgraben am Königstor beginnt der Pfingstausflug, der sich auch unter dem Regenschirm machen läßt. Sobald der Schritt durch die Türe aus dem Fußgängertunnel getan ist, fällt schon die starke Konkurrenz für die dicken Türme aus vergangenen Zeiten ins Auge: ein 14-stöckiges Hochhaus fängt den Blick des Wanderers zwischen ergrauten Mauern. So wie hier wird die Stadt noch an vielen anderen Stellen ihr Janusgesicht offenbaren – auf der einen Seite der mittelalterliche Wall, der sich 3,7 Kilometer lang hinzieht und mit 60 trutzigen Türmen bestückt ist, gegenüber moderne Paläste aus Glas und Beton.

29. Mai 1966: Begegnung mit der Geschichte

© Gerardi

Der Fußweg im Graben vom Bahnhof zum Sterntor ist eine Errungenschaft der Nachkriegsjahre, in denen die Idee geboren wurde, dem Fußgänger neue Wege abseits vom Verkehr zu schaffen und damit ein bißchen Beschaulichkeit zu schenken. Auf diesem ersten Stück ist das Reich für den nichtmotorisierten Zeitgenossen so ideal wie kaum anderswo. Er kann im Graben und auf dem Zwinger gehen oder auf einer Bank verweilen. Wenn die Sonne scheint und die Liebespaare flirten, tut sich hier ein kleines Paradies in der Großstadt auf.

Für eine knappes Stück des Weges muß die Geborgenheit der alten Mauern nach dem Sterntor verlassen und dem Getümmel des Verkehrs nähergetreten werden, weil dort schon länger eine Lücke im Wall aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts klafft. Schon beim Kartäusertor aber kann der Spaziergänger wieder unter das Niveau der Fahrbahn tauchen, bis ihn am Färbertor ein schönerer Zwinger als je zuvor einlädt. Hier haben die Nachkommen der einstigen Reichsstädter in ihrer Verkehrsnot sogar Profit aus dem steinernen Ring geschlagen, denn gäbe es den Zwinger nicht, die Fußgänger wüßten nicht wohin.

29. Mai 1966: Begegnung mit der Geschichte

© Gerardi

„Die Partie am Frauentorgraben ist unsere Visitenkarte“, sagt Baudirektor Harald Clauß, Nürnbergs Denkmalspfleger, „denn hier fährt ein jeder vorbei!“ Daher haben sich die städtischen Baufachleute im Verein mit den Steinmetzen dies ererbten Abschnitts auch mit besonderer Liebe angenommen. Wie ehedem, als noch der böse Ansbacher Marktgraf und andere Feinde die Mauern zu erstürmen suchten, recken sich hier die Türme und Türmlein wehrhaft empor. Mit einer Ausnahme sind sie alle zusammengeflickt oder von Grund auf neu gebaut worden, auf daß die Kette nahtlos erscheine.

Wie sehr die Nürnberger an ihrer Stadtumwallung hängen, das haben die Männer vom Bau zum wiederholten Male erfahren, als sie am Plärrer den Hobel ansetzen wollten. Es erhob sich lautes Geschrei und Wehklagen, weil am Spittlertor ein Gebilde aus Sandsteinquadern fallen mußte. So sehr auch immer wieder versichert wurde, es handle sich hier um eine Nachbildung in Pseudo-Gotik, es dauerte noch lange, bis sich die Gemüter beruhigt hatten. Baureferent Heinz Schmeißner schließlich erklärte selbst, er ließe sich lieber die Hand abhacken, als Hand an ein historisches Grabenstück zu legen.

Dieses Ansinnen war an ihn gestellt worden, weil für die Einfahrt in die Dennerstraße Verkehrsraum benötigt wurde, der Stadtrat aber nicht gerne die Bürgerhäuser an der Westseite abgerissen und dafür lieber den Graben abgeknabbert sehen wollte. Schmeißner als weithin bekannter Lokalpatriot ließ es nicht zu, daß auf solche Art der berühmte „Blick zur Burg von Westen“ verschandelt werde, und errang einen Sieg für Nürnberg.

Für den Spaziergang bietet der Anstieg zur Burg auf dieser Seite schon allerhand Reize. Zwar hat es sich die Stadt wegen ihrer schmalen Kasse bisher nicht leisten können, den Graben zwischen Ludwigstor und Fürther Tor zur Grünanlage auszugestalten, aber gleich danach sieht die Sache schon wesentlich freundlicher aus. Bis zum Westtor führt der Pfad an blühenden Bäumen und Sträuchern vorbei, um dort vorerst am Altersheim Kettensteg zu enden. Am Hallertor aber lassen sich schon wieder Ansätze erkennen, die dem Fußgänger dereinst zur Freude gereichen sollen.

Am Neutor wird der Graben vollends zur Augenweide. An dem meterdicken Gemäuer der Bastion vorüber führt der Weg, ein Stückchen sogar auf Grund und Boden des Freistaats Bayern als Erben der Kaiserburg, bis hin zum Rathenauplatz. Dabei schreitet der Wanderer über jenes Gelände, auf dem sich vormals die „Stadtgrom-Liga“ erbitterte Gefechte mit Konservenbüchsen geliefert und gar mancher Fußballheld die ersten Sporen verdient hat. Ein Zeichen mehr, daß bei diesem Rundgang auf Schritt und Tritt Begegnungen mit der Nürnberger Geschichte möglich sind.

Sünden der Vergangenheit

Auf Sünden der Vergangenheit stößt man hingegen zwischen Laufer- und Wöhrder Tor, denn hier haben übereifrige Nürnberger im letzten Jahrhundert die Mauern geschleift, weil sie des horrenden Verkehrs nicht mehr Herr zu werden glaubten. Obschon heute zigmal soviel Fahrzeuge durch die Straßen kurven, denken die Denkmalshüter unserer Tage gar nicht daran, auch nur ein Stück Vergangenheit preiszugeben. Ganz im Gegenteil: sie haben gerade in allerletzter Zeit den Laufer Torgraben bis zur Pegnitz wieder in alter Schönheit erstehen lassen, um den klotzigen Versicherungsbauten auf der anderen Seite des Rings Nürnberg wie es war entgegenzusetzen.

Die Opfer für den Verkehr gehen auch hier nur so weit, daß der Zwinger dem Fußgänger als Verdrängten der Autoströme reserviert bleibt. Er muß jedoch noch ein Weilchen warten, ehe er sich das Gewühle auf den Straßen gelassen von oben ansehen kann. Der Benzindampf hüllt ihn dann wieder ein, weil bis zum Königstor der Graben keinen Platz für Fußwege bietet. Vom Marientor an ist er sogar aufgeschüttet, aber leuchtet wenigstens freundlich grün.

Wem auf dem Weg über 3,7 Kilometer die Füße erlahmen, der kann sich hie und da in einem „Gärtla“ stärken. Das alles steckt in der alten Stadtmauer, die so lange jung bleibt, wie das Leben um sie pulsiert.

Verwandte Themen


Keine Kommentare