3. September 1965: Gift in Kinderhand

3.9.2015, 07:00 Uhr
3. September 1965: Gift in Kinderhand

© Ulrich, Kammler

Dies ist einer von 112 Vergiftungsfällen, die in den Jahren 1958 bis 1964 in der Kinderklinik der Städtischen Krankenanstalten Nürnberg stationär behandelt wurden. Über die Zahl der Kinder, die nur zur Magenspülung ins Krankenhaus kamen und dann vom Hausarzt weiterbehandelt wurden, gibt die Statistik keine Auskunft. Man darf aber annehmen, daß es nicht wenige waren, die auf diese Weise vor größerem Schaden bewahrt wurden.

Wissenschaftlich untersucht

Dr. Klaus Oster jr., der Nürnberger Schularzt, hat die 112 Vergiftungen wissenschaftlich untersucht. Die Erkenntnisse, die der Mediziner gewann, sind auch für Laien beherzigenswert. „Vorbeugen ist besser als heilen“, lehrt das Sprichwort. Hätten sich die Erwachsenen von dieser Weisheit leiten lassen, wären mindestens 98 Kinder in Nürnberg nicht mit Gift in Berührung gekommen. Nur 14 der 112 Fälle lassen sich nämlich nicht in ein allgemeines Schema mit der Überschrift „kindliche Initiative“ einordnen. Siebenmal verkannten Erwachsene die Wirkung von Arzneien und gaben Kindern viel zu hohe Dosen ein. Zwei Kinder aßen mit Gift gespritztes Obst, drei verwechselten ganz eindeutig Giftstoffe mit Lebensmitteln und zwei wurden von Bienenschwärmen überfallen.

Bei der Untersuchung der 98 vermeidbaren Fälle erforschte Dr. Oster, in welchem Alter Kindern durch Gifte die größte Gefahr droht, wo sie in den Bannkreis der lebensbedrohenden Substanzen geraten und welche Giftgruppen am häufigsten Unheil anrichten.

Kleine „Bonbons“

Über 50 der 98 giftgeschädigten Buben und Mädchen waren erst 18 bis 30 Monate alt, als sie aus verlockenden Flaschen tranken oder kleine „Bonbons“ in den Mund steckten. Weitere 20 Kinder dieser Gruppe hatten das dritte und noch einmal 20 das vierte Lebensjahr nicht vollendet.

Diese Altersaufschlüsselung beweist einmal mehr, wie wichtig die Aufsicht in den ersten Lebensjahren ist. Es entspricht der Mentalität der Kleinkinder, mit Augen, Händen und dem Mund die Umwelt zu erforschen und Erfahrungen zu sammeln. Die Ärzte haben festgestellt, daß Kinder bei ihren Erkundungszügen auch bittere Stoffe in den Mund nehmen und schlucken. Nach Geschlechtern aufgeteilt, zeigen die Buben eine größere Aktivität. Für die Nürnberger Fälle lautet das Verhältnis 60 v. H. Jungen, 40 v. H. Mädchen. Aufschlußreich ist auch, wo sich die Kinder Vergiftungen zuzogen. Die Mädchen sind mehr bei ihren Müttern in der Küche und greifen in unbeachteten Augenblicken zur Flasche mit Essigsäure, während die Jungen im Gefolge des Vaters oft an Benzin, Haushalts-Chemikalien und Schädlingsbekämpfungsmittel geraten. Bei Vergiftungen durch Medikamente halten sich beide Geschlechter etwa die Waage.

Gefährliche Schlafmittel

Die Nürnberger Beobachtungen bestätigen eine allgemeine Erkenntnis: Früher waren Kinder durch Pflanzengifte in der Natur am meisten bedroht. Dann folgte eine Zeit, in der hauptsächlich durch den Genuß von Haushalts-Chemikalien schwere gesundheitliche Schäden ausgelöst wurden. Heute spiegelt sich in der Statistik der gesteigerte Tablettenverbrauch wider. Immer mehr Kinder müssen mit Vergiftungen durch Schlaf- oder Beruhigungsmittel in die Klinik gebracht werden. Bei steigender Tendenz sind es in Nürnberg schon fast 40 v. H. aller Vergiftungsfälle.

Alarmierend ist, daß gerade die durch Arzneien hervorgerufenen kindlichen Vergiftungen am lebensbedrohendsten sind. 18 Nürnberger Kinder schwebten in akuter Lebensgefahr, davon hatten 17 Medikamente geschluckt. 27 behielten schwere, zum Teil nicht mehr zu heilende gesundheitliche Schäden. Darunter sind 14 Folgefälle von Medikamentenvergiftungen. Diese schweren Auswirkungen dürfen nicht übersehen werden, wenn die Statistik erfreulicherweise auch melden kann, daß es den Ärzten der Städtischen Kinderklinik in den letzten sieben Jahren gelungen ist, allen vergifteten Kindern das Leben zu erhalten.

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