7. August 1965: Wohin, wenn die Sirenen heulen?

7.8.2015, 07:00 Uhr
7. August 1965: Wohin, wenn die Sirenen heulen?

© Gerardi

Als einziger und erster Neubau mit Luftschutzkellern für 2.000 Menschen entsteht gegenwärtig in der Altstadt ein sogenanntes Mehrzweckhaus. Behörden und private Bauherren haben bisher vergebens auf ein Bundesgesetz gewartet, das schließlich klipp und klar festlegen muß, wie Schutzräume für einen Krieg mit ABC-Waffen (Atomwaffen sowie Mittel zur biologischen und chemischen Kriegführung) aussehen sollen. In diesen Wochen wird ein Gesetz über den Bau von Schutzräumen diskutiert, in dem vorgesehen ist, daß nach dem 1. Juli 1966 Bauanträge nur noch dann genehmigt werden sollen, wenn ein Schutzraum eingeplant ist. Ob es bei diesem Termin bleiben wird und ob der Bund – wie vorgesehen – 25 v. H. der angenommenen Summe von 500 Mark für jeden Platz pro Person bezahlt, ist allerdings noch fraglich.

„Wir müssen im Augenblick abwarten“, sagt Oberbürgermeister Dr. Andreas Urschlechter als örtlicher Luftschutzleiter; in dieser Eigenschaft hat er gewissermaßen nur Befehle des Bundes und des Landes auszuführen. Als oberster Chef des Luftschutzes und der zivilen Verteidigung in Nürnberg mußte der auskunftsfreudige Mann mehr als einmal bei unserem Gespräch darauf hinweisen, daß ihm vielfach die Pflicht zur Geheimhaltung Auskünfte untersagt. „Was ich in diesem Winter anschlagen soll, darf ich jetzt noch nicht bekanntgeben!“

7. August 1965: Wohin, wenn die Sirenen heulen?

© Gerardi

Die Zahl der Schutzbauten, die den zweiten Weltkrieg überdauert haben und jetzt wieder für den Ernstfall bereitgehalten werden, ist jedoch nicht geheim, weil sie jeder ohnehin mit bloßem Auge sehen kann. Die Stadt hat den einschlägigen Dienststellen in Bund und Land eine fast erstaunliche Zahl von alten Schutzräumen melden können: 17 Hoch- und 10 Tiefbunker, 30 Felsenkeller, 4 Stollensysteme und 66 Splittergräben. Die meisten dieser Baulichkeiten sind allerdings in einem erbärmlichen Zustand. Was mit ihnen künftig geschehen soll, wurde „von oben“ noch nicht mitgeteilt. Mit Mitteln des Bundes sind in der jüngsten Vergangenheit lediglich der dicke Turm am Splittertor als Hochbunker sowie die Anlagen unter dem Obstmarkt und einer Grünanlage in der Wodanstraße (beide Tiefbunker) instandgesetzt worden. An den Tiefbunkern Färbertor/Jakobstor, Bauhof, Hauptbahnhof und Gewerbemuseumsplatz wird neben dem Hochbunker Färbertor jetzt gearbeitet.

Nur notdürftige Reperaturen

Wie das Beispiel der Bunker Spittlertor und Obstmarkt jedoch zeigt, bedeutet dieses „instandgesetzt“ wenig. Es besagt lediglich, daß die nackten Räume einigermaßen in Ordnung gebracht sind; in ihnen finden sich bestenfalls noch Toiletten, aber schon nicht ein einziger Stuhl als Sitzgelegenheit. Noch schlimmer sieht es in den Felsenkellern und Stollen unter dem Burgviertel aus, in denen das Wasser von den Decken tropft und der Unrat aus vergangenen Zeiten herumliegt; ja, es gibt dort noch nicht einmal elektrisches Licht. Die Schutzräume stehen vorerst also nur auf dem Papier und reichen, alles in allem, höchstens für 60.000 Menschen aus, einen Bruchteil der Bevölkerung von 467.000.

Niemand macht obendrein ein Hehl daraus, daß diese alten Bunker in einem Atomkrieg einen recht fragwürdigen, wenn überhaupt einen Schutz bieten. Die meisten von ihnen konnten schon einem Volltreffer während der Bombenangriffe von 1942 bis 1945 kaum standhalten. Keiner von den verantwortlichen Männern bildet sich daher ein, daß sie auch nur bei einem Raketenbeschuß den Menschen in ihren Mauern die nötige Sicherheit bieten würden. Obendrein können alle diese Bunker höchstens vier Stunden belegt werden, wie die Erkenntnisse eines Atomkrieges lehren. „Es gibt in Nürnberg keinen einzigen Atombunker“, muß daher der Oberbürgermeister gestehen.

Einen schwachen Lichtblick stellt gegenwärtig eine große Baustelle zwischen der Breiten und der Frauengasse dar. Hier entsteht ein Mehrzweckhaus, das künftig in seinen beiden untersten Geschossen Schutzräume für 2000 Menschen bieten soll. In normalen Zeiten werden diese Etagen unter der Erde als Tiefgaragen verwendet. Ob in den vergangenen Jahren schon in privaten Bauten Luftschutzkeller entstanden sind, ist nicht bekannt. Das Amt für Katastrophenschutz weiß lediglich zu berichten, daß sich hin und wieder Baulustige danach erkundigt haben, wie solche Räume aussehen müssen.

Hingegen steht es bombensicher fest, daß die Stadt in keinem ihrer Gebäude beim Wieder- oder Neuaufbau Bunker geschaffen hat. Nur in den Krankenanstalten gibt es ein „Bunkerlein“, wie der OB meint. Auf die Frage, ob er als Luftschutzleiter wenigstens einen Befehlsstand hat, erklärte er: „Darüber darf ich nichts sagen!“ Der Oberbürgermeister gibt jedoch unumwunden zu, daß nicht eine einzige Schule einen Schutzraum besitzt. „Ich bin der Meinung, daß die Schulen bei erkennbarer Kriegsgefahr geschlossen werden sollen, denn in Angst und Furcht ist ein normaler Unterricht doch nicht möglich“, erklärt er. Die Kinder sollten in einem solchen Falle die Stadt am besten verlassen. Evakuierungspläne für alle, die nicht in Nürnberg bleiben müssen, sind bereits ausgearbeitet.

Vorerst bleibt den Nürnbergern wie allen anderen Bundesbürgern kein anderer Ausweg, als geduldig zu warten, bis das Bonner Parlament das Gesetz über den Bau von Schutzräumen verabschiedet. Zu Paragraphen, die Richtlinien für den Bau von Bunkern bringen sollen, muß der Bund aber gleich auch viele Milliarden DM liefern. Allein für eine Stadt von der Größe Nürnbergs sind Hunderte von Millionen nötig, um die alten Bunker nach den jüngsten Erkenntnissen auszubauen und neue Schutzräume in Wohngebieten wie Langwasser zu schaffen. Wieviel Geld dazu wirklich nötig ist, wird erst die Praxis lehren können.

Am 23. September werden alle 109 elektrischen Sirenen auf den Dächern und die zehn Preßluftsirenen auf 22 Meter hohen Masten zur Probe heulen. Bei dieser Schallprüfung soll es sich herausstellen, ob ihre Töne auch überall in der Stadt und von jedermann vernommen werden. Die Menschen aber müssen sich bei dieser Gelegenheit wohl oder übel fragen: „Wohin, wenn die Sirenen heulen?“

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