Als der Holocaust noch totgeschwiegen wurde

20.11.2008, 00:00 Uhr
Als der Holocaust noch totgeschwiegen wurde

© Rupp

Zumindest von Tamar Amar-Dahl, die 1968 als Tochter eines jüdischen Rabbiners in Israel geboren wurde und heute als promovierte Historikerin in München lebt, hätte man etwas anderes erwartet. «Natürlich ist die Sozialisation in Israel heute stark vom Holocaust geprägt,« berichtete sie. Seit zwölf Jahren lebt sie in Deutschland.

Da sie jedoch aus einer marokkanischen Einwandererfamilie in Israel stammt und damit zu den sephardischen – also orientalischen – Juden gehört, habe ihre Familie keine persönlichen Erfahrungen mit dem Holocaust. Hinzu komme, dass auch die Nachbarn in der Region, in der sie aufgewachsen ist, zumeist aus orientalischen Familien stammten. «Und so hatte ich lange kaum Kontakte zu Aschkenasim« – also zu den Juden mit westlichen oder osteuropäischen Wurzeln.

In der Schule – besonders im Gymnasium, beim zweijährigen Militärdienst und später an der Uni – habe sich dies natürlich geändert. Ihr persönliches Schlüsselerlebnis mit dem Holocaust hatte sie dann aber, als sie Anfang der 90er Jahre einer (aschkenasischen) Freundin fröhlich erzählte, dass sie vorhabe, in Deutschland weiter zu studieren. Diese habe sich entsetzt gezeigt und gesagt: «Man wird dich dort verbrennen.«

Khalil Toama, 1944 geboren in einer christlich-palästinensischen Familie im galiläischen Rama und als israelischer Araber mit israelischem Pass ausgestattet, wurde mit dem Thema Holocaust zwar bereits erstmals in der Kindheit konfrontiert – und da eigentlich gleich richtig drastisch, wenn er es denn verstanden hätte.

Als er Kind war, habe seine Familie viel Kontakt gehabt mit jüdischen Nachbarn, von denen viele aus arabischen Ländern kamen und mit denen man arabisch sprach.

Aber einmal sei er mit dem Vater unterwegs gewesen, und beide seien einem Mann begegnet, der ganz offenbar kein sephardischer Jude war, sondern aus Europa stammte. «Er hatte eine Tätowierung am Arm, und ich fragte meinen Vater, was das sei. Er sagte dann: ,Das hat Hitler gemacht‘«, berichtet Toama, der 1969 nach Deutschland kam, in Frankfurt aktiv in der linken Szene war und dort eine Zeitlang einen prominenten WG-Mitbewohner hatte: den jüdischen Daniel Kohn-Bendit.

Seinerzeit blieb der kleine Khalil zwar etwas ratlos zurück, doch als er später begriff, was die Tätowierung aus dem Vernichtungslager Auschwitz bedeutete, erinnerte er sich wieder an die Begegnung. Er führt die spärlichen Informationen über den Holocaust in Israel in seiner Kindheit darauf zurück, dass «bis zur Auslieferung Adolf Eichmanns das Thema Holocaust in Israel tabu war«. Erst später, so der heute 64-Jährige, sei das Thema «von der Besatzungsmacht missbraucht worden, um zu rechtfertigen, was man durch die Besatzungspolitik anrichtet.«

Auch für den im palästinensischen Flüchtlingslager Kalandia aufgewachsenen Muslim Fuad Hamdan, der Ende 1951 geboren wurde und heute das Dritte-Welt-Zentrum in München leitet, hatte der Holocaust keinen Platz in der Kindheit. «Meine Familie ist 1948 aus ihrem kleinen Dorf Sawar vertrieben worden, wo sie zuvor friedlich mit jüdischen Nachbarn zusammengelebt hat«, erzählt er.

Das Dorf, in dem die Menschen zwar nicht reich gewesen seien, aber als Viehzüchter ihr Auskommen hatten, sei dem Erdboden gleichgemacht worden.

Die Menschen waren mit

dem eigenen Schicksal beschäftigt

«In dieser Situation waren die Menschen mit ihrem eigenen Schicksal beschäftigt – und nicht mit dem Holocaust.« Heute sei dies anders. Bei Besuchen in seiner «Heimat« höre er, dass es die Palästinenser seien, die für das Leid der Juden in Europa büßen müssten. Sogar die von Irans Staatspräsidenten Mahmoud Ahmadinedschad ins Spiel gebrachte Sichtweise, wonach Europa den Juden Land zur Verfügung stellen müsste, wenn es den Holocaust verursacht hat, hat Hamdan im Flüchtlingslager vernommen.

Doch bei allem Leid, das seiner Familie zugestoßen ist, bewahrt er einen kühlen Kopf. Auf die ernsthafte Frage einer Palästinenserin, die im Publikum saß, wie viele Opfer denn der «Holocaust« Israels an den Palästinensern gefordert habe, erwiderte er entsetzt: «Es hat einen Holocaust an den Juden gegeben, aber es gab keinen Holocaust an den Palästinensern. Die Israelis haben uns aus unserer Heimat vertrieben, aber sie haben uns nicht vernichtet, nur weil wir Palästinenser sind.«

Überhaupt waren so manche Äußerungen aus dem Publikum heftiger und weniger zitierfähig als die Beiträge der Podiumsteilnehmer.

Der Moderator und Leiter der Begegnungsstätte, Pfarrer Hans-Martin Gloël, hatte es da nicht leicht, schaffte es aber, Konfrontationen zu vermeiden – was bei Diskussionen zu diesem heiklen Thema nicht immer gelingt.

«Zu diesem wichtigen und schwierigen Thema sind anlässlich des Podiums Gruppen und Personen miteinander ins Gespräch gekommen, die sonst nicht miteinander sprechen. Somit war die Veranstaltung ein Impuls für eine weitere Vertiefung des Themas«, lautet sein persönliches Fazit.

Ausgerechnet die Jüdin Tamar Amar-Dahl war es, die den Deutschen ans Herz legte, «den deutsche Diskurs über den Holocaust nicht so eng an den israelischen Diskurs anzulehnen.« Man mache sich hierzulande oft den israelischen Diskurs «bedingungslos« zu eigen. «Ich finde es gut, dass die Deutschen ihre Geschichte aufarbeiten«, sagte sie. «Aber ich sehe hier immer noch zu viele Hemmungen.« Sie wünsche sich, dass die Deutschen mehr Mut zeigten und einen eigenen, unabhängigen Diskurs pflegten.

Fuad Hamdan fügte hinzu, man müsse die israelische Regierung kritisieren dürfen. «Egal, wo Unrecht geschieht, da man muss seine Stimme erheben.«

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