Charkiv rückt ins Rampenlicht

12.6.2012, 16:00 Uhr
Charkiv rückt ins Rampenlicht

© Wolfgang Heilig-Achneck

Mit ihren knapp 1,5 Millionen Einwohnern putzt sich die Metropole der Ostukraine heraus: Entlang öder Einfallstraßen sprießt plötzlich zartes Grün, lange schäbige Fassaden leuchten in frischen Farben, neuer Asphalt deckt einst holprige Schlaglochpisten. „Alles ist so sauber“, freut sich mit hörbarem Stolz Valentina Alexandrowa, Deutsch-Dozentin im „Nürnberger Haus“, als erkenne sie ihre eigene Stadt kaum wieder.

Werkeln bis zum Schluss

Dabei wird hier wie andernorts bis zur letzten Minute gewerkelt und geschrubbt. Ausgerechnet am Platz rund um das Historische Museum, mitten im Zentrum, wird allerdings über die EM hinaus weitergearbeitet — schade, weil gerade hier der Blick auf prächtige Belle-Epoque-Fassaden zum Verweilen einladen könnte. Doch dazu laden auch Grünanlagen wie am Schauspielhaus, der weitläufige Schewtschenko-Park oder die idyllische Uzviz-Anlage ein, der Treffpunkt der Hobbymaler mit der Postkarten-Aussicht auf die Verkündigungs-Kathedrale.

Dabei kann die einstige Hochburg der Flugzeug-, Panzer- und Traktorenproduktion mit der Schönheit anderer, kulturhistorisch interessanter Städte, auch im Kreis der EM-Schauplätze mit Kiev und Lemberg, nicht wirklich mithalten. Ihre Geschichte ist stark militärisch geprägt und reicht zurück bis zur Gründung als Festung im Jahr 1654. Unter Katharina der Großen und auch danach bauten sich deutsche Handwerker hier eine neue Existenz auf. Ihren Stempel aufgedrückt haben Charkiv — wie die im Russischen Charkow genannte Stadt seit der Einführung des Ukrainischen als Nationalsprache heißt — dann vor allem die Industrialisierung mit ihren großen Kombinaten und die Planwirtschaft.



Zu den alltäglichen Beispielen gehören noch heute die betagten Straßenbahnen aus tschechischer Produktion: Wir steigen in einen der rundum geflickten Wagen und rätseln, wie viel Rostflecken unter der Farbe versteckt sind. Rumpelnd geht die Fahrt über die krummen Gleise, als drohte die Bahn im nächsten Augenblick auseinanderzufallen oder aus den Schienen zu springen, während außerhalb des Zentrums typische Ostblock-Wohnblöcke vorüberziehen.

 



Tiefe Spuren hinterlassen haben in Stadtgeschichte und Stadtbild natürlich auch die grauenhaften Zerstörungen und Verwerfungen im Zweiten Weltkrieg, als harte und verlustreiche Kämpfe um die Stadt tobten.

Was es zu entdecken gibt, findet sich wie auf einer Perlenkette entlang der Hauptstraße Sumska oder im näheren Umkreis: das Rathaus mit vielen Elementen des einstigen russischen Zuckerbäckerstils, Prachtbauten aus Neobarock und Jugendstil und einige prächtige orthodoxe Kirchen. Und natürlich der riesige Freiheitsplatz.

Er gilt als einer der größten in Europa; außerhalb großer Veranstaltungen ist er nicht nur als Parkplatz beliebt: Skater drehen hier ihre Runden, und junge Möchtegern-Rennfahrer lassen gerne mal hören, was in ihren aufgetunten Wagen steckt. Die spröde Schönheit erschließt sich am ehesten bei Märkten oder Großveranstaltungen wie einem gigantischen Fan-Dorf zur Fußball-EM.

Für Schlagzeilen und viel Verärgerung sorgten schon im Vorfeld der EM Berichte über unverschämte Wucherpreise selbst in Hotels unterer Kategorien und Berichte, dass Studenten genötigt werden, ersatzlos ihre Wohnheimplätze als Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. Üble Machenschaften und die Bedeutung von Korruption werden von offizieller Seite freilich heruntergespielt oder bestritten.

 



Und die allermeisten Fußballfans werden davon zumindest in Charkiv gar nicht viel mitbekommen: Allein aus Holland werden einige Tausend Orange-Fans erwartet — für sie hat die Stadt ein großzügiges CampingAreal ausgewiesen und hergerichtet. Und die meisten deutschen Fans, heißt es, reisen per Bus, Bahn oder Flugzeug wohl nur zu dem einen Auftritt der Löw-Elf im schmucken Metalist-Stadion an — und umgehend wieder ab.

Schicke Lokale

Wie in vielen Städten Osteuropas ist auch in der Ukraine eine erstaunlich bunte, kreative Gastronomie-Szene entstanden: In hippen, schicken Lokalen sind durchaus auch kreative Köche am Werk — dann allerdings auch zu Preisen, die für den Großteil der Einheimischen unerschwinglich sind. Aber schon in den Seitenstraßen der Sumska sind, manchmal im Tiefparterre, nicht weniger originelle Lokale zu entdecken mit authentischer und mehr als preiswerter Küche.

Einen echten Gewinn beschert die EM allen Gästen, die weder kyrillische Schriften lesen können noch Ukrainisch oder Russisch sprechen, vermutlich über das Ereignis hinaus: Erstmals hat die Stadt Charkiv Stadtpläne, Tourismus-Prospekte und einen Stadtführer auch in englischer Sprache herausgegeben.
 

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