"Das Böse übt Faszination aus"

23.5.2014, 10:29 Uhr

© ARD

Herr Bachmann, welcher Roman liegt gerade auf Ihrem Nachttisch?

Thilo Bachmann: Momentan habe ich „Die 27ste Stadt“ von Jonathan Franzen auf dem Tisch. Es geht um eine neue Polizeichefin in St. Louis, eine Inderin. Der Roman klagt mich an, weil er gelesen werden möchte. Aber ich komme nicht dazu. Ich muss auf meinen Urlaub warten.

Der Charme des Krimis ist ja: Auf der letzten Seite oder nach eineinhalb Stunden ist der Täter todsicher überführt. Schön wär’s?

Bachmann: Bei uns teilt sich das. Es gibt Fälle, die vergleichsweise schnell aufgeklärt sind. Und dann gibt es die anderen. Bei manchen muss man sehr viel Geduld haben. Momentan haben wir immer noch eine Soko am Laufen, wo sich der Fall bald jährt.

Sie sprechen vom Mord an Anneliese Morchutt, der Rentnerin aus der Südstadt.

Bachmann: Das ist ein Fall, der uns nicht loslässt.

In der Literatur haben Ermittler ja gern mal eine Eingebung. Spielt Intuition im realen Leben eine Rolle?

Bachmann: Es ist eine Kombination. Man hat natürlich objektive Spurenlagen. Man versucht, sie mit Tathypothesen zu verifizieren oder auszuschließen. Manchmal gibt es natürlich auch Fälle, die nicht ganz so griffig sind, und da spielen die Erfahrung und die Reflexion zwischen Bauch und Kopf eine Rolle. Aber man muss natürlich beweisen können, was einem die Intuition sagt.

© Michael Matejka

Können Sie die große Faszination für Krimis nachvollziehen, obwohl Sie die echten Abgründe kennen?

Bachmann: Das Böse übt immer eine Faszination auf den Menschen aus. Das schlimmste Verbrechen, Mord, bewegt die Fantasie am meisten. Am Ende wird aber alles aufgeklärt, dann siegt das Gute. Dann ist die Welt wieder in Ordnung (lacht).

Wenn Sie sich irgendwo vorstellen und Ihren Beruf nennen, wie reagieren die Leute dann?

Bachmann: Man merkt natürlich, dass viele Vorstellungen durch Bücher, Medien und Filme generiert werden. Den Einzelgänger wie im Roman oder Film, den gibt es bei uns nicht. Bei uns ist das klassische Teamarbeit. Ein anderes Klischee ist, dass der Chef immer einen Bericht will und möglichst sofort (lacht).

In der Literatur wird in vielen Fällen ja auch der große geplante Mord beschrieben. Das haben wir in der Realität sehr selten. In vielen Fällen passiert es aus der Situation heraus, ohne große Planungsphase. Das sind zum Beispiel Beziehungstaten aus einem Streit heraus, oder wenn ein geplanter Raub oder Diebstahl aus dem Ruder läuft und der Täter spontan den Beschluss fasst, sein Opfer umzubringen.

Angenommen, Sie müssten einen Ihrer Fälle als Vorlage für einen Roman auswählen. Welchen würden Sie nehmen?

Bachmann: Einer ist mir sehr in Erinnerung geblieben: ein geplanter Ehrenmord. Ein Vater war mit einer Waffe auf dem Weg hierher zu seiner Tochter, um sie und ihren Freund zu töten. Wir konnten ihn vor der Wohnung festnehmen. Über dieses Kulturverständnis macht man sich schon Gedanken. Im Laufe von 30, 35 Berufsjahren lernt man Extreme kennen und wozu Menschen fähig sind. Ich denke an einen Fall im Kreis Ansbach, wo ein Mann seine ganze Familie ausgelöscht hat: Schwiegermutter, Frau, drei Kinder. Das war ein Exzess. Das sind Bilder, die hat man in seinem Kopf.

Glauben Sie, dass letztlich jeder in der Lage ist zu töten?

Bachmann: Ich glaube, dass jeder Mensch in der Lage wäre, in bestimmten Situationen einen anderen zu töten — zum Beispiel aus Notwehr. Aber vorsätzlich? Das kann nicht jeder.

Mit welchem Krimi-Ermittler können Sie sich denn am ehesten identifizieren?

Bachmann: Da gibt’s eigentlich niemanden.

Wie wäre es mit Kommissar Wallander von Henning Mankell?

Bachmann: Da habe ich viele Bücher gelesen. Sehr guter Spannungsbogen! Im Film wird der Ermittler sehr kaputt dargestellt. Wenn wir bei uns merken würden, dass die Arbeit so aufs Gemüt eines Kollegen schlägt, würden wir ihn aus dem Fachgebiet herausnehmen.

Ich probier’s noch mal. Wie wär’s mit Kommissar Kluftinger aus dem Allgäu?

Bachmann: Den finde ich ganz witzig. Aber Identifikationspotenzial hat er nicht (lacht). Gerne sehe ich den „Tatort“-Kommissar aus Österreich, Harald Krassnitzer. Auch die Themen sind gut. „Tatort“ ist Pflichtprogramm. Das schaue ich gerne.

Eine beliebte Roman- und Film-Figur ist auch der Profiler. Wird dessen Rolle überschätzt?

Bachmann: Ich will nicht sagen, dass er überschätzt wird, aber man muss wissen, wo man ihn einsetzen kann. Wir haben bei jedem ungeklärten Tötungsdelikt die operative Fallanalyse aus München eingebunden. Die Kollegen haben eine andere Sichtweise. Da kommen Impulse. Aber kein Profiler wird uns einen Namen auf den Tisch legen und sagen: Das ist der Täter. Es geht darum, neue Ermittlungsansätze zu finden.

Krimi-Schriftsteller, die zur Criminale kommen, nehmen bei Ihnen quasi Nachhilfe in Sachen Realität. Was sagen Sie denen?

Bachmann: Den Alleskönner-Kommissar, der Vernehmungen macht und auch noch IT-Spezialist ist, den gibt es nicht. Für jedes Fachgebiet kön-nen wir Leute beiziehen. Aber ich gehe nicht davon aus, dass Krimis danach anders geschrieben werden (lacht).

Haben Sie einen Buchtipp für uns?

Bachmann: „Im Keller“ von Jan Philipp Reemtsma. Das ist autobiografisch geschrieben. Reemtsma war 33 Tage lang in den Händen seiner Entführer. Er schildert, was da in einem vorgeht. Das ist sehr interessant.
 

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