Das Land mit den großen Aufgaben

3.11.2017, 19:21 Uhr

Karl Schlögel gab selbst zu, dass sein Augenmerk früher hauptsächlich auf Russland lag und er die Ukraine nur als Durchreiseland gesehen hat. Das hat sich geändert. Vor allem nach den Protesten auf dem Maidan in Kiew und den kriegerischen Auseinandersetzungen mit Russland im Jahr 2014 rückte die Ukraine in seinen Fokus, erzählte der Historiker bei der Konferenz in Nürnberg.

Die Veranstaltung fand im Rahmen der "Kiewer Gespräche" statt, einer Plattform, die den Dialog zwischen der Ukraine und Deutschland als Ziel hat. Sie gehörte neben dem Amt für Internationale Beziehungen der Stadt Nürnberg und dem Partnerschaftsverein Charkiw-Nürnberg zu den Organisatoren der Veranstaltung. Schlögel bemängelte, dass nun – nachdem die Ukraine mit ihren Veränderungen und dem Krieg im Osten des Landes aus den Schlagzeilen verschwunden ist – die Menschen in Westeuropa dazu neigen, das Land zu ignorieren: "Deutsche wollen in Ruhe gelassen werden, wollen, dass sich das Verhältnis mit Russland normalisiert und alle zur Tagesordnung übergehen."

Diese Haltung ist nach Schlögels Meinung falsch: "Wie können wir über die Friedensordnung in Europa sprechen, ohne die Länder, die dazwischenliegen, einzubeziehen?" Er plädierte für die Erhaltung der Sanktionen gegen Russland und mehr Solidarität mit der Ukraine. Der Osteuropa-Experte nahm bei der Konferenz auch die Ukrainer in die Pflicht: "Wir haben wenig Einfluss darauf, was in der Ukraine passiert. Das müssen die Ukrainer selbst tun. Sie müssen dafür sorgen, dass die Korruption, das unglaubliche Spiel der Oligarchen, aufhört." Dies ist keine leichte Aufgabe, sagte der ukrainische Publizist Juri Durkot: "Es gibt kein klares Rezept, keine Antwort in der ukrainischen Gesellschaft darauf, wie man damit umgeht." Problematisch seien nicht nur die Oligarchen als solche, sondern "die untransparenten Seilschaften, wo jeder mit jedem etwas Illegales gemacht hat".

"Es gibt eine Chance, dass es weitergeht"

Durkot sieht aber nicht alles schwarz: "Wir sind immer noch nicht über dem Berg. Aber es gibt eine Chance, dass es weitergeht." Einiges ist in den vergangenen Jahren in Gang gekommen in seinem Land, betonte Durkot: 64 Prozent des Außenhandels hat die Ukraine mit der EU, das Land gehört zu den zehn stärksten Lieferanten in der Landwirtschaft. Auch Oksana Senatorowa, Jura-Professorin aus der Nürnberger Partnerstadt Charkiw, betonte: "Es gibt viele positive Entwicklungen, die unter anderem auch auf dem Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU basieren." Sie bat um weitere Unterstützung seitens der EU.

Die EU-Abgeordnete Rebecca Harms lobte das Erstarken der ukrainischen Zivilgesellschaft. Sie machte auch deutlich, dass die Aufgaben, vor denen die Ukraine steht, nicht zu unterschätzen sind. "Wir müssen gleichzeitig dem Land zugestehen, dass es in vielen Bereichen noch in einer anderen Zeit lebt und Dinge regeln muss. Man kann nicht erwarten, dass alle Reformen und Prozesse über Nacht passieren", so Harms.

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