Die Vision von der geeinten Vielfalt

25.9.2010, 10:10 Uhr
Die Vision von  der geeinten Vielfalt

© Uwe Niklas

Doch als ein Besucher anmerkt, man könne nicht Deutscher und Türke sein, geht Gençer die Hutschnur hoch. Diesen Unsinn könne er nicht mehr hören.

Der in der türkischen Stadt Karabük geborene Gençer kam 1973 als Dreijähriger nach Deutschland. Er ist mit einer Deutschen verheiratet und beschäftigt in seiner Kanzlei Deutsche, Russen und Türken. Wenn Moderator Hans-Martin Gloël am Ende der Debatte über den „Mythos Integration“ dazu auffordert, Geschichten gelingenden Zusammenlebens weiterzuerzählen, dann meint er wohl solche Geschichten wie die des Rechtsanwalts Gençer.

Auch die interkulturelle Trainerin Deriya Çelebi-Back sagt, dass man bei den Integrationsdebatten nicht immer nur auf das verweisen dürfe, „was schiefläuft“. Zuletzt hat Thilo Sarrazin mit seinem umstrittenen Buch „Deutschland schafft sich ab“ vermeintliche Fehlentwicklungen aufgezeigt und damit eine Debatte neu angeheizt, die auch ohne den ehemaligen Berliner Finanzsenator schon lange lief, wie der stellvertretende NZ-Chefredakteur Stephan Sohr betont. Wer behauptet, erst seit Sarrazin werde über Integration diskutiert, „hat seit 15 Jahren keine Zeitung gelesen“.

Die Rolle der Medien sieht Gençer dabei zum Teil kritisch – so findet er es hochproblematisch, dass die NZ die Forderung des bayerischen Umweltministers Markus Söder nach einem Burka-Verbot als große Schlagzeile brachte, obwohl es doch hier kaum Burka-Trägerinnen gebe und Söders Postulat reiner Populismus sei. Sohr kontert, dass man als Zeitung Meinungen nicht weglassen dürfe, nur weil sie einem nicht passen – und zudem habe die NZ die Einlassungen des Ministers kritisch kommentiert.

Doch trotz Gençers kritischer Bemerkungen und seiner Forderung nach mehr Vertrauen auf beiden Seiten – die These der Integrationsratsvorsitzenden Diana Liberova, dass die Integration noch nicht so gut funktioniere, wie die Protagonisten auf der politischen Ebene es gerne behaupten, teilt er nicht: „Deutschland verändert sich positiv“, sagt er im Rückblick.

Noch weiter zurückschauen kann der 69-jährige frühere Stadtrechtsdirektor Hartmut Frommer, der sich erinnert, dass in den 50er Jahren Knoblauch ein großes Thema war. „Damals schien ein Italiener als Wohngenosse im Haus nicht brauchbar zu sein, weil er angeblich nach Knoblauch stinkt. Heute wird mir von Italienern und Türken bestätigt, dass Deutsche nach Knoblauch stinken, weil sie ihn mit Unverstand genießen.“ Die Fremdenfeindlichkeit sei seit damals deutlich geringer geworden, glaubt Frommer, der bis 2008 in Nürnberg für Zuwanderungsrecht zuständig war. Das Problem liege eher in der fehlenden Toleranz gegenüber anderen Religionen. Sarrazin sollte die „Kopftuchmädchen“ als Aufforderung verstehen, „seine Toleranz zu entwickeln“, findet Frommer.

„Wo ist die Vision?“, lautet der Untertitel der Debatte. Frommer sieht eine solche Vision – in Anlehnung an die Präambel der dann nicht in Kraft getretenen europäischen Verfassung – in der Verwirklichung einer „geeinten Vielfalt“: „Der Neubürger kann in unserer Schar mitlaufen, ohne seine Individualität zu verlieren.“ Und für Gençer bedeutet Integration, „dass ich in einem bunten Deutschland Teil des Ganzen sein darf“.