Eine kleine Glocke beendete das Chaos

16.9.2011, 17:56 Uhr
Eine kleine Glocke beendete das Chaos

© aus dem Buch „Der Hauptmarkt. Handel und Versorgung“

Als die Industrie- und Handelskammer (IHK) Nürnberg im vergangenen Jahr ihr 450-jähriges Bestehen feierte, wollte sie auch dem Marktglöcklein eine Gedenktafel widmen. Schließlich ist diesem das Jubiläum zu verdanken. Denn das erste Glockenläuten im Jahr 1560 gilt gleichsam als Geburtsstunde einer Vereinigung der Nürnberger Kaufleute.

Dr. Kurt Hesse, Pressereferent der IHK, kümmerte sich um die Gestaltung der Tafel und sah sich mit einer simplen Frage konfrontiert: Wie sah die Glocke eigentlich aus? Mit Lupen suchten er und seine Mitarbeiter auf alten Gemälden nach der Glocke, die an einem Strebepfeiler der Sebalduskirche hing. Als Vorbild wurde dann die Glocke gewählt, die Dürer 1514 ins rechte, obere Eck seiner „Melencolia I“ gemalt hatte.

Ebenfalls nicht willkürlich wurde die Gedenktafel an der Ostseite des IHK-Gebäudes am Hauptmarkt angebracht. Hinter der Fassade mit dem Fries „Nürnberger Tand geht durch alle Hand“ befand sich einst das Marktgewölblein. Und dort wurde anlässlich des ersten Glockenläutens am 16. April 1560 an die Wand ein Glöcklein gemalt und ein Gedicht geschrieben.

Doch warum wird um das Anbringen eines Glöckleins solch ein Wirbel veranstaltet? „Sie müssen sich das so vorstellen“, sagt die Diplom-Kauffrau Daniela Semann, die als Steuerberaterin in Feucht und als Stadtführerin in Nürnberg arbeitet: „Es herrschte eine riesige Unordnung auf der Warenbörse am Markt.“ Geschäftsleute verpassten sich, was gerade für auswärtige Händler ärgerlich war.

Ein erster Schritt, um dem Chaos Einhalt zu gewähren, war der Erlass von festen Marktzeiten. Wie in Antwerpen und Venedig sollten diese mit einem Glöcklein an- und abgeläutet werden. Das war die Bitte von 61 Nürnberger Großkaufleuten, mit der sie sich im Februar 1560 an den reichsstädtischen Rat wandten. Dem Wunsch wurde stattgegeben und die Marktzeiten von elf bis 17 Uhr beschränkt. Die „Älteren Handelsleute“, ein zunächst loser Zusammenschluss von Großkaufleuten, suchten nun einen Handwerker, der den Markt an- und abläuten sollte. Diese Aufgabe wurde dem Taschner und Predigtstuhlmacher Hanns Öfner übertragen. Außerdem musste er über den Markt gehen und von allen, die vor elf oder nach fünf Handel trieben, einen Goldschilling kassieren.

Beinahe noch wichtiger als das Anbringen des Börsglöckleins war die neue Marktordnung, die damit einherging. Auf einer Tafel wurde sie für jedermann sichtbar im März 1560 am Herrenmarkt, der sich an der westlichen Seite des Hauptmarkts befand, angebracht. Die beschränkten Marktzeiten galten zwar auch für die Bauern und Kleinverkäufer in der Mitte des Hauptmarkts, doch die neue Ordnung war vor allem für die Großhändler am Herrenmarkt von Bedeutung. Dass es neben den „Älteren Handelsleuten“ auch dem Rat der Stadt ernst mit der neuen Ordnung war, zeigt ein Vorfall von 1567. Wegen eines Verstoßes wurde der italienische Kaufmann Bartolomeo Odelscalco sogar ins Gefängnis gesteckt.

Mit den festen Handelszeiten und der neuen Marktordnung ging ein Wandel vom Messe- zum Börsenhandel einher. Und das ist wahrscheinlich der wichtigste Punkt. Dadurch, dass nicht mehr nur an den zeitlich begrenzten Messen, sondern ganzjährig Handel getrieben werden durfte, wuchs das Umschlagvolumen und Nürnberg gewann als Handelsplatz enorm an Bedeutung. Dass Nürnberg einer der bedeutendsten Handelsplätze des Mittelalters werden konnte, hat es auch seiner zentralen Lage im damaligen Reich zu verdanken. Mehrere Fernhandelsstraßen kreuzten sich hier. Karawanen von Lübeck nach Lyon passierten Nürnberg ebenso wie Handelszüge von Köln nach Wien. Ausgehende wie eingehende Waren wurden in den Nürnberger Waagen kontrolliert. Bei Transithandel mussten die Waren dort drei Tage ausgestellt werden. „Somit waren die Nürnberger immer auf dem neuesten Stand“, erklärt Daniela Semann.

Heute werden die Märkte zwar nicht mehr an- und abgeläutet, doch wer sich nicht an die Öffnungszeiten hält, muss immer noch mit Strafe rechnen. Berühmtestes Beispiel ist die „Gemüsekriegerin“ Gunda Herbst, die in den 70ern und 80ern unter anderem auch wegen Missachtung der Ladenschlusszeiten mit der Obrigkeit im Streit lag. Die Einhaltung der Öffnungszeiten wird allerdings nicht mehr von der Kaufmannschaft, sondern vom Marktamt überwacht.

Wann das Glöcklein verstummte, ist nicht bekannt. Als die Marktvorsteher am 13. März 1813 beschlossen, es abzunehmen, war es wohl schon längere Zeit nicht mehr in Betrieb. Die 15,5 Pfund schwere Glocke wurde dem Marktvorsteher Gottfried Kießling zum Materialpreis übereignet.

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