Erste Anlaufstelle für missbrauchte Jungen in Bayern

10.10.2013, 06:58 Uhr
Erste Anlaufstelle für missbrauchte Jungen in Bayern

© Jens Schierenbeck/dpa/gms

Er war der letzte Kunde an diesem Tag, alle anderen waren gegangen. Michael (Name geändert) war mit dem Friseur plötzlich allein im Salon. Der nutzte die Situation aus. Er legte einen Pornofilm ein und zwang den minderjährigen Jungen, sich die Bilder anzuschauen. Dabei bedrängte er ihn. Michael war so schockiert, dass er es nicht schaffte, sich zu wehren.

Drei Wochen später wandte sich Michael an den „Schlupfwinkel“. Ein mutiger Schritt, ein ungewöhnlicher dazu. Sich nach so kurzer Zeit selbst Hilfe zu holen, „das ist die Ausnahme“, sagt Stefan Bauer, Sozialpädagoge. Normalerweise dauert es viel länger, bis Missbrauchsopfer den Mut finden, sich zu offenbaren. Scham hindert sie. Manche suchen die Schuld erst einmal bei sich. „Sie fragen sich, habe ich da etwas verkehrt gemacht? Oder: Bin ich schwul?“, fährt Bauer fort.

Der Verein „Schlupfwinkel“ macht seit 2003 mit „Paroli“ missbrauchten Jungen und jungen Männern ein spezielles Beratungsangebot. Die Mitarbeiter erleben seitdem immer wieder, dass sich Jungs schwerer tun als Mädchen, sich Hilfe zu holen und diese wirklich anzunehmen. Die klassischen Rollenbilder sind offensichtlich nicht auszumerzen: Jungen haben gefälligst stark zu sein!

"Maßgeschneidertes Angebot"

Deshalb nun also das Jungenbüro, ein niedrigschwelliges Angebot, wie Peter Singer, „Schlupfwinkel“-Geschäftsführer, sagt. „Es ist ein maßgeschneidertes Angebot, das uns in Nürnberg und der Region gefehlt hat“, ergänzt Kerstin Schröder, Leiterin des Jugendamts. Wenn man es genau nimmt, dann ist das Jungenbüro einmalig im Freistaat.

Es will konkrete Anlaufstelle sein. Im Jungenbüro werden aber auch Angebote gebündelt, die der „Schlupfwinkel“ seit Jahren für Jungen bereithält. Was wichtig ist: Nicht nur Missbrauchsopfer können sich dorthin wenden, sondern auch junge Männer mit typisch jungenspezifischen Problemen. Und: Opfer der unterschiedlichsten Formen von Gewalt. Also Jungs, die geschlagen wurden oder gemobbt werden.

„Mobbing ist in den vergangenen Jahren verstärkt in den Fokus geraten“, beobachtet Sozialpädagoge Michael Klement. Nicht nur in der Schule, auch im Web. Die unendlichen Weiten der virtuellen Welt bieten eben auch unendlich viele Möglichkeiten, andere an den Pranger zu stellen, Gerüchte zu lancieren, andere schlicht fertigzumachen.

Dartscheibe und Boxhandschuhe

Im Jungenbüro, das im Wespennest unweit der Stadtbibliothek untergebracht ist, ist dann auch alles auf Jungen getrimmt. An der Wand hängt eine Dartscheibe, Boxhandschuhe stehen auf dem Regal, ein großes Bild zeigt eine Kampfszene. „Jungs wollen sich messen“, fährt Klement fort. Das machen sich die Pädagogen in Kursen zunutze. Das Jungenbüro bietet zum Beispiel Gruppenangebote zu den Themen Selbstbehauptung oder Identität und Rolle an.

Parallel zum Jungenbüro geht auch die neue Internetseite www.jungenbuero-nuernberg.de an den Start. Hier können Jungs auch anonym Kontakt zum „Schlupfwinkel“ aufnehmen. Dort wird auch genau erklärt, wo sexueller Missbrauch beginnt.

Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 285 Sexualstraftaten bei der Nürnberger Kripo angezeigt. Unter den 320 Opfern waren 41 Männer, 28 von ihnen waren noch minderjährig.

Ein zunehmendes Problem sind laut Polizei Übergriffe via Internet. Die Täter suchen über Online-Spiele Kontakt zu Jungs. Sie verabreden sich mit ihnen auf Skype, um über das Internet zu telefonieren. Dann nehmen die Täter sexuelle Handlungen an sich vor, die über die Web-Kamera übertragen werden, oder nötigen ihre Opfer dazu, das Gleiche selbst zu tun. Für die Polizei ist es schwer, an die Täter heranzukommen, weil sich Spuren im Internet leicht verwischen lassen.

Michael ist übrigens zur Polizei gegangen und hat Anzeige erstattet. Er wurde dabei vom „Schlupfwinkel“ unterstützt. Die Kripo leitete Ermittlungen gegen den Friseur ein.

Jungenbüro, Wespennest 9, Telefon: (0911) 52814751.

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