Fall Amina: Die ganze Familie flieht

13.5.2010, 00:00 Uhr
Fall Amina: Die ganze Familie flieht

© Kasperowitsch

Die achtköpfige Familie sehnt sich nach Ruhe. Auf dem Wohnzimmertisch liegt ein Teil der amtlichen Schreiben. Bußgeld-Bescheide sind darunter, auch die Mitteilung, dass sie kein Kindergeld bekommt, solange keine Schulanmeldungen vorliegen.

Auf das Geld kommt es dem Vater, Hubert Busekros, nicht einmal an. Er verdient als Mitarbeiter eines großen Konzerns gut. Sein Chef half ihm auch bei der Suche nach einem Posten im benachbarten Ausland.

Busekros sieht allerdings sein Elternrecht verletzt und fühlt sich von den Ämtern verfolgt, weil er und seine Frau Gudrun die Kinder nicht in den eigenen vier Wänden unterrichten dürfen. Beim Sprung über die Grenze geht das ohne weiteres. Inzwischen besucht keines der insgesamt sechs Kinder des Ehepaares mehr eine staatliche Schule. Das zieht endlose Auseinandersetzungen mit den hiesigen Behörden nach sich.

In die Psychiatrie eingewiesen

Damals, vor drei Jahren, tobte ein heftiger Streit nur um die Tochter Amina, wie unsere Zeitung berichtete. Das Mädchen war damals 15 Jahre alt und hatte schulische Probleme im Gymnasium. Die Eltern gaben ihr mehr und mehr zu Hause Unterricht, die übrigen Kinder gingen da noch weiter in eine staatliche Schule. Am Ende meldete der Schulleiter Amina ab. Sie hätte zwangsweise in die Hauptschule gehen müssen.

Das wollten die Eltern aber auf keinen Fall. Der Streit eskalierte. Das Jugendamt - zuständig war die Erlanger Behörde - wurde eingeschaltet. Das Familiengericht entzog den Eltern weitgehend das Sorgerecht.

Mitarbeiterinnen des Jugendamtes ließen Amina von der Polizei abholen, wiesen sie in die Kinder- und Jugendpsychiatrie am Nürnberger Klinikum ein und brachten das Mädchen dann in einem heilpädagogischen Heim und bei einer Pflegefamilie unter. Von dort floh das Kind dann Monate später wieder nach Hause. Seither hielten die Behörden in ihrem Fall still.

»Gewisse Ratlosigkeit«

Amina ist jetzt 19 Jahre alt und bereitet sich mit dem Material für den Hausunterricht selbstständig auf die Abiturprüfung vor. Sie geht aber mit ins Ausland. »Vielleicht mache ich dort auch eine Lehre«, sagt sie. Die Eltern haben die Erfahrungen der vergangenen Jahre so von Homeschooling überzeugt, dass sie mit allen ihren Kindern diesen Bildungsweg gehen wollen.

Kürzlich stand die Familie wegen Amina noch einmal vor Gericht. Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in Ansbach ging es um die seinerzeit wegen Amina entstandenen Heimkosten. Das Jugendamt ist am Ende darauf sitzen geblieben. Das Gericht attestierte der Behörde bei der Einweisung Aminas eine »gewisse Ratlosigkeit« und eine Orientierung mehr an Vermutungen denn an Fakten.

Schreiner: In Sachen Homeschooling vom Saulus zum Paulus

Dieter Rossmeissl (SPD), Erlanger Kulturreferent und Chef des Jugendamtes, sieht darin keinen Beinbruch. »Dann schicken wir halt keinen Kostenbescheid«, sagt er gegenüber der NN-Lokalredaktion. Die Konsequenz aus der Niederlage vor Gericht sei künftig lediglich eine gründlichere Dokumentation solcher Fälle. »Nur darum ging es in diesem Verfahren.«

Bei Manfred Schreiner, dem früheren Leiter des Nürnberger Volksschulamtes, hat dagegen ein Umdenken eingesetzt. Er ist seit einem Jahr in Pension. »Ich bin in der Frage Homeschooling vom Saulus zum Paulus geworden«, erklärt er der Lokalredaktion. Ein Damaskus-Erlebnis hatte er nicht, »ich habe mich nur in die Materie vertieft.« Er selbst zählte früher zu den »Hardlinern«, wie er bekennt. Einer Nürnberger Homeschooling-Familie drohte 2003 ebenfalls der Entzug des Sorgerechts für ihre Kinder. Bevor es so weit kam, floh sie nach Österreich. Dort unterstützen grundsätzlich die zuständigen Sprengelschulen die Eltern, die ihren Nachwuchs zu Hause unterrichten, statt sie im äußersten Fall Tag für Tag von der Polizei abholen zu lassen.

Leistungsniveau von Homeschooling-Kindern »sehr hoch«

In der Metropolregion gibt es heute Beispiele, in denen die Behörden diese Bildungsform mehr oder weniger offen dulden. Die Schulbehörden wissen Bescheid, setzen aber nicht den ihnen zur Verfügung stehenden Straf-Apparat in Bewegung. Sie nehmen davon Abstand, sobald sie sich ein Bild von den Familien gemacht haben. Manfred Schreiner - er ist bis heute im Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) auf Landesebene aktiv - genügt es nun nicht mehr, nur diese »Grauzone« aufrechtzuerhalten. »Es ist ein Fehler, solche Familien in einen Topf mit notorischen Schulschwänzern aus sozial verwahrlosten Verhältnissen zu werfen«, meint er.

Wissenschaftliche Untersuchungen hätten belegt, dass das Leistungsniveau von Homeschooling-Kindern »sehr hoch« ist. Die Familien seien bildungsbeflissen, meist relativ wohlhabend, in Vereinen aktiv und in einem Bildungsnetzwerk miteinander verbunden. »Heute würde ich solche Fälle im Dialog klären«, betonte der erfahrene Schulmann, »da muss man keinen rechtlichen Prinzipien-Streit anzetteln.« Kritiker fürchten dagegen eine Isolation der betroffenen Kinder und eine einseitige Beeinflussung durch die Eltern.

Auf die gesetzliche Schulpflicht will auch Schreiner nicht verzichten, er könnte sich aber eine Initiative im Landtag vorstellen, die es per Verordnung erlaubt, diese Pflicht auch außerhalb staatlicher Schulen zu Hause bei regelmäßigen Leistungstests der Kinder und Betreuung durch eine Schule abzuleisten. »Das österreichische Modell finde ich ganz gut.«

Schreiner erteilt derzeit selbst eine Art Hausunterricht. Er hilft seinen Enkelkindern. »Wenn ich mitkriege, welchem Druck die schon ausgesetzt sind, könnte ich fast zum überzeugten Homeschooling-Großvater werden.«