Hinter Gittern freiwillig die Schulbank drücken

22.1.2013, 07:00 Uhr
Hinter Gittern freiwillig die Schulbank drücken

© dapd

Vielleicht haben sie gestohlen, ein Auto in Brand gesteckt oder jemanden verprügelt — doch daran denkt während der Feierstunde in der Nürnberger Justizvollzugsanstalt (JVA) wohl keiner. Denn die jungen Männer, alle zwischen 18 und 30 Jahre alt, sind nicht nur Häftlinge. Gerade sind sie erfolgreiche Absolventen der Hauptschule; sie vergleichen ihre Noten und freuen sich über den Kuchen, den ihre Lehrerin gebacken hat.

Die Männer haben ihre Zeit in der Haftanstalt sinnvoll genutzt, zwei von ihnen meisterten die Prüfungen sogar mit einem Einserschnitt. Und dass sie hinter Gittern Deutsch, Mathematik, Geschichte, Sozial- und Erdkunde sowie das Fach Arbeit-Wirtschaft-Technik paukten, ist ihren Zeugnissen nicht anzusehen: „Johann-

Daniel-Preißler-Schule, Mittelschule Nürnberg“ steht drauf. Ein neutrales Dokument, das helfen soll auf dem Weg zurück in die Gesellschaft.

„Das Gefängnis liegt in unserem Sprengel“, sagt Rudolf Seibold, Rektor der Preißler-Schule. Und deshalb kooperiert die Schule bereits seit den 80er Jahren mit der JVA, seit sieben Jahren ist auch Seibold dabei.

Etwa 68.000 Häftlinge, die meisten davon Männer, sind derzeit in deutschen Gefängnissen eingesperrt. Die Gesamtkosten für den Strafvollzug betragen etwa drei bis vier Milliarden pro Jahr. Eine gewaltige Summe, die nicht einfach versickern soll: „Es liegt in unserem Interesse, dass Sie sich nach dem Aufenthalt in der JVA wieder in das Leben in Freiheit einfügen“, sagt Seibold mit feierlichem Gesicht zu den Absolventen. „Bildungschancen sind immer auch Sozialchancen“, fügt er hinzu und schenkt den beiden Jahrgangsbesten jeweils ein Buch.

Im Gefängnis finden sich, unter Deutschen und Ausländern, massenhaft Analphabeten, viele von ihnen schauen lieber in die Glotze, als in einem Buch zu blättern. Nicht wenige der Gefangenen, so schildern Vollzugsbeamte immer wieder, schaffen es schlicht nicht, mit dem Leben in Freiheit zurechtzukommen. Manche der jungen Männer sind völlig verwahrlost, manche haben in ihrem Elternhaus nicht einmal gelernt, wie man sich die Zähne richtig putzt. Und egal ob sie türkischer, deutscher oder russischer Herkunft sind: Ihr Mangel an Bildung, ihre Gewalt- und Verwahrlosungsstrukturen ähneln sich. Und bei den meisten hat die Kindheit in aufeinandergestapelten Sozialwohnungen mit alkoholkranken Eltern und schlägernden Vätern Spuren hinterlassen.

All dies wissen JVA-Chefin Renate Schöfer-Sigl und die junge Anstaltslehrerin, die im vergangenen September ihren Dienst hinter Gittern angetreten hat. Und deshalb wissen sie auch, wie hoch die Leistungen ihrer Schüler zu bewerten sind.

„Für mich war es das Wichtigste, dass sie alle immer wiedergekommen sind und mittendrin nicht abgebrochen haben“, lobt die Lehrerin ihre Zöglinge, die — gekleidet im blauen Drillich der Haftanstalt — an Schulbänken sitzen und lauschen. „Ich weiß es zu schätzen, dass Sie für uns Kuchen gebacken haben“, sagt ein Schüler.

Jedem Einzelnen hat die Lehrerin, die Wert darauf legt, anonym zu bleiben, neben dem Zeugnis auch eine Karte geschrieben. Mit zehn Männern hat sie 14 Wochen, von Montag bis Freitag, täglich vier Stunden gelernt — und dabei einigen erst das Lernen gelernt. Neun haben den Hauptschulabschluss erreicht, drei streben nun auch noch die zweite Stufe, den „Quali“, den qualifizierenden Hauptschulabschluss, an.

Lebensläufe korrigieren

Abweichende Lebensläufe können korrigiert werden, so das Credo der Pädagogin. Dennoch ahnt sie schon während der Feierstunde, dass sie einige ihrer Schüler wiedertreffen wird. Schließlich ist die Statistik hinreichend bekannt: Die Hälfte aller Gefangenen werden nach ihrer Entlassung wieder kriminell, jeder Vierte muss zurück in den Knast.

Doch eine Lehrerin, die sich freiwillig aus dem regulären Schuldienst hinter Gitter versetzen ließ, dabei auf die Ferien verzichtet und sich mit 30 Tagen Urlaubsanspruch begnügt, liest diese Zahlen auch anders: Die Hälfte aller entlassenen Strafgefangenen bleibt straffrei, drei Viertel müssen nicht zurück ins Gefängnis.

Die Wahrscheinlichkeit, sich in Freiheit ein bürgerliches Leben aufzubauen, das Leben ohne weitere Straftaten zu meistern, steigt mit jeder Ausbildung, mit jedem Bildungsabschluss, der erreicht wird, ergänzt JVA-Chefin Renate Schöfer-Sigl.

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