Im Andechser Bunker: Fernab von Sonne und Weltgeschehen

24.2.2010, 00:00 Uhr
Im Andechser Bunker: Fernab von Sonne und Weltgeschehen

© Fengler

Darüber hinaus galt das Bett sowieso als gefährlicher Ort, den ein Mensch von Charakter zu meiden habe: «Es ist schändlich und verwerflich, wenn uns die Sonne bei ihrem Aufgang noch im Bett vorfindet», urteilte ein Sittenhandbuch aus dem Jahr 1703. Man sollte «etwa zwei Stunden nach dem Abendmahle» zu Bett gehen. Dort aber sei es «sehr unschicklich und wenig sittsam, im Bett zu plaudern, zu scherzen oder zu spielen». Und überhaupt: «Bleibt niemals im Bett, wenn ihr nicht mehr schlaft, es wird eurer Tugend sehr zugute kommen».

Aber egal, ob nun der Wecker schrillt, ein Moralapostel uns Beine macht oder die Arbeit ruft – meist wachen wir doch zur selben Zeit von alleine auf. Dieses Phänomen führte den Philosophen Georg Christoph Lichtenberg 1793 zu der Vermutung, dass der Mensch eine «innere Uhr» trage. Denn wie sonst könne er dem Diktat der mechanischen Uhr Gehorsam leisten? «Das Handeln nach der Uhr aber setzt innere uhrmäßige Anlagen voraus.»

Eben diese «inneren uhrmäßigen Anlagen» erforschen die Chronobiologen. Bahnbrechend dafür waren die Forschungen des Mediziners Jürgen Aschoff (1913 – 1998). Der wollte wissen, wie der Mensch sich verhält, wenn er von jeder Wahrnehmung von Zeit abgeschnitten ist. Dazu braucht es einen Raum, in den kein Sonnenlicht fällt, kein Fenster, keine Uhr, kein Fernseher oder Radio die Tageszeit verrät. Nicht einmal Wasser- und Fallrohre, deren Rauschen eine ungefähre Zeitangabe andeuten, dürften dem Ohre vernehmlich sein. Dafür braucht es einen Keller, noch besser einen Bunker.

Diesen Bunker baute das Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Andechs, nicht weit von dem berühmten Kloster. Dieser Bunker besaß zwei Räume für die Versuchspersonen, sowie Küche und Toilette.

In den 25 Jahren von 1964 bis 1989 zogen 447 Freiwillige für meist eine Frist von vier Wochen in den Andechser Bunker ein. Die Freiwilligen (die erst einen psychologischen Test bestehen mussten) waren meist Studenten, die auf ihre Prüfung lernten oder sich eine Auszeit nahmen. Zu den Spielregeln gehörte es, detailliert Tagebuch zu führen, per Knopfdruck wichtige Tätigkeiten nach draußen zu signalisieren und zu protokollieren, wie etwa das Aufstehen und Zubettgehen, den Gang auf die Toilette, Frühstück, Mittag- und Abendessen (man lebte meistens von Konserven), Lektüre, Schreibarbeit oder Sport.

Obst und Gemüse, auch die Tageszeitungen, gelangten durch eine Schleuse herein, allerdings nie zu festen Zeiten. Bewegung verschaffte sich der Freiwillige auf einem Zimmerfahrrad. Das einzig Störende war ein Temperaturfühler im Rektum, den der Proband die ganze Zeit an Ort und Stelle behalten musste. Ein Kabel sicherte ihm dennoch Bewegungsfreiheit hinter den ein Meter dicken Wänden.

Ansonsten war der Mensch frei, zu tun und zu lassen was er wollte. Die meisten Probanden widmeten sich ihrem Studium oder der Lektüre. Die meisten Menschen erfuhren diese Zeit der Einsamkeit und Stille nach der Eingewöhnung als ein intensives, ja gesteigertes Dasein.

Das Wichtigste aber: Waren die vier Wochen herum und die Zeit zum Aufbruch gekommen, so fielen die Versuchskaninchen aus allen Wolken: Nach ihrem privaten Kalender fehlte nämlich noch ein Tag oder zwei bis zur Freiheit. Das liegt daran, dass die innere Uhr tatsächlich 25 Stunden «tickt». Im Laufe eines Monats wanderten die Stunden des Einschlafens und Erwachens immer weiter nach vorne. Zudem blieb der 25-Stunden-Rhythmus erstaunlich stabil. Selbst wer ein bisschen später ins Bett fand, schlief dafür etwas kürzer.

Bald beließ es Aschoff nicht bei Einzelpersonen, sondern sandte Paare und Gruppen von bis zu vier Mann in den Bunker. Das Ergebnis war meistens dasselbe: Die Vierergruppen bildeten bald eine zeitlich homogene Einheit, die zur selben Zeit erwachte, einschlief und aß. War dies aber ein Fall physiologischer oder psychologischer Natur? Setzte sich vielleicht ein Anführer mit seinem Naturell durch, und alle anderen schlossen sich ihm an?

Darum unternahm Jürgen Aschoff eine neue Versuchsanordnung: zwei Probanden von unterschiedlichem Naturell lebten zwei Wochen lang in den beiden Bunkerkammern, doch getrennt voneinander. So entwickelte jeder seinen eigenen Schlaf- und Wachrhythmus. Nach zwei Wochen öffnete sich automatisch die Verbindungstür zwischen den Kammern. Und was geschah? Menschen, die sich in den psychologischen Tests als selbstsicher und dominierend erwiesen hatten, nötigten ihren Tagesrhythmus den sanfteren Charakteren auf.

Nicht nur die Schlafforscher, auch die Psychologen hatten am Andechser Bunker ihre helle Freude. Nämlich dann, sobald die Probanden wieder ans Tageslicht kamen. Die erste Freude des Wiedersehens wich schnell der Verwunderung darüber, wie es Menschen aushalten, im Rudel zusammenzuleben und sich gegenseitig auszuhalten. Meist drängte es die Studenten zuerst in den Biergarten des Klosters Andechs. Dort aber angekommen, schafften sie kaum eine Maß. Der ganz normale bajuvarische Trubel überforderte Nerven und Gemüter.

Keine Kommentare