Im Wandel der Zeit: Als Autofahren noch Luxus war

31.8.2018, 21:17 Uhr
Im Wandel der Zeit: Als Autofahren noch Luxus war

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"Gestern Abend war ich zu müde, um noch zu schreiben, aber nun, da es kaum dämmert, bin ich bereits auf und erfreue mich von meinem Fenster aus der herrlichen Natur (. . .) Blaugrün leuchtet das Wasser des Bodensees, und die von leichtem Nebel umzogenen Berge geben einen wundervollen Abschluß dieses reizvollen Bildes. Wie in dunkelvioletten Samt gekleidet, sehen sie zu mir herüber, gleich einem Hermelinkragen nehmen sich die Schneekoppen aus." So schildert Lina Erlanger am 7. Mai 1907 ihre Eindrücke, nachdem sie drei Tage zuvor zusammen mit Verwandten und Freunden zu einer dreieinhalbwöchigen Tour durch die Schweiz, Südfrankreich und Norditalien aufgebrochen war.

Limousinen der Victoria-Werke

Es ist eine illustre Runde, die sich von Nürnberg aus auf die Reise gemacht hatte. In den beiden sechssitzigen Limousinen des vor allem für seine Motorräder bekannten Nürnberger Herstellers Victoria sitzt nach Recherchen des Stadtarchivs neben Lina Erlangers Onkel, dem schwerreichen Fabrikanten Ignaz Bing, und dessen Töchtern das befreundete Ehepaar Schätzler. Lorenz Schätzler ist zusammen mit seinem Vater Theodor Inhaber einer Goldschlägereiformenfabrik und gehört damit ebenso wie die Familie Bing zur finanziellen Elite der prosperierenden Industriestadt.

Die aus einer jüdischen Handwerkerfamilie stammenden Brüder Ignaz und Adolf Bing haben Ende des 19. Jahrhunderts dank außerordentlichem kaufmännischen Geschick ein Unternehmen für Metallwaren und Blechspielzeug aufgebaut, das vor dem Ersten Weltkrieg bis zu 4000 Mitarbeiter beschäftigt und als die größte Spielwarenfabrik der Welt gilt. Ignaz Bing, dessen Todestag sich heuer zum 100. Mal jährt, ist jedoch nicht nur ein herausragender Unternehmer, sondern auch ein großzügiger Mäzen, der unter anderem in seiner "Sommerfrische" in Streitberg in der Fränkischen Schweiz die von ihm entdeckte und nach ihm benannte Binghöhle erforschen ließ.

Die 1878 in Nürnberg geborene Autorin der Reisetagebücher ist eines von fünf Kindern von Adolf Bing und heiratet 1898 den aus Thalmässing (Landkreis Roth) stammenden Arzt David Erlanger. Während des Dritten Reichs hat das Ehepaar unter den Repressionen der Nazis zu leiden. In der "Reichskristallnacht" zum Beispiel zerschlägt der Mob das Klavier der Erlangers mit Spitzhacken und wirft die Trümmer durch ein Fenster in den Hof.

Vor einiger Zeit tauchten die in
drei Tagebüchern dokumentierten Urlaubserlebnisse von Lina Erlanger in den USA auf. Wie sie dort hingelangten, darüber können die Mitarbeiter des Stadtarchivs nur spekulieren. "Möglicherweise hat ein Bruder, der noch rechtzeitig emigriert ist, die Tagebücher mitgenommen. Aber das ist nur eine Vermutung", sagt Thomas Knapp, der die teilweise in hochwertiges weinrotes Leder gebundenen Alben mit ihren in einer ebenso akkuraten wie geschwungenen Handschrift niedergeschriebenen Texten transkribiert und ausgewertet hat.

Mit Chauffeur unterwegs

Der Weg der Bücher zurück nach Deutschland führte über die deutsche Diplomatin Margit Häberle. Während ihres beruflichen Aufenthalts in Los Angeles lernte sie ein jüdisches Ehepaar kennen, das ihr Lina Erlangers Aufzeichnungen anvertraut. Die Alben sollten wieder dorthin, wo sie hingehören – so die Bitte, und so landen die drei Bände nach einem Umweg über das Jüdische Museum in München wieder in Nürnberg.

Thomas Knapp und sein Kollege Gerhard Jochem, der die Biografien der in den Reisetagebüchern erwähnten Personen nachrecherchiert hat, sind beeindruckt von diesen persönlichen Überlieferungen aus Nürnbergs jüdischem Großbürgertum, das von den Nazis restlos vernichtet wurde. Die Texte von Lina Erlanger würden uns nicht nur ein Bild früher Mobilität vermitteln, sie geben auch einen Einblick in die Lebensgewohnheiten der Oberschicht im Deutschen Kaiserreich, erklärt Knapp. So fuhr man oftmals noch mit Chauffeur, und das schwere Gepäck wurde an die bereits avisierten Hotels der ersten Kategorie weitergeschickt.

"Immer aber muß ich wieder sagen: Es gibt nichts Schöneres als eine Autoreise", schreibt die Fabrikantentochter zum Abschluss einer von insgesamt fünf dokumentierten Touren, die die Familie Bing und deren Freunde unter anderem an die oberitalienischen Seen, nach Thüringen und in die Toskana führen. Die letzte Fahrt findet drei Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs statt, und in ihren Aufzeichnungen präsentiert sich Lina Erlanger als scharfe Beobachterin. Sie beschreibt nicht nur die Schönheiten der Natur und der besuchten Städte und Dörfer in einer ebenso feinsinnigen wie bildhaften Sprache, sondern wirft immer wieder auch einen humorvollen und bisweilen auch selbstironischen Blick auf die Kuriositäten des Alltags.

Zum Beispiel, als sie nach einer Übernachtung in Genf "auf obrigkeitlichen Befehl" die Reisegesellschaft frühmorgens aus den Betten trommeln muss. "Da es tags zuvor geheißen hat, ,Zusammenkunft 1/2 9 Uhr‘, so ist es gerade kein dankbares Amt, um 6 Uhr den Radauschläger zu machen, doch immerhin kann man Menschenstudien dabei machen. Hinter einer Türe höre ich sogar Laute wie von einem wild gewordenen Tiger", schreibt die junge Frau, die immer wieder auch auf die Erschwernisse solcher Reisen in den Anfangstagen des Autos eingeht.

"Flott fahren wir dahin - da ein Knall - und der Pneumatiks zwingt uns, auf reizloser Landstraße einen unfreiwilligen Aufenthalt zu nehmen" - vor allem auf den Alpenpässen wird die Reisegesellschaft immer wieder von solchen Reifenpannen ausgebremst. Die bei diesen Zwangspausen entstandenen Fotos zeigen anschaulich den damit verbundenen aufwendigen Schlauchwechsel.

Tragisches Ende

Überhaupt werden Lina Erlangers Aufzeichnungen von zahlreichen Fotografien in einer für die damalige Zeit exzellenten Qualität ergänzt. Neben Landschaftsaufnahmen und Stadtansichten sind unter anderem Aufnahmen der Reisegesellschaft zu sehen, bei der die Damen auf den Rücksitzen unter ihren wagenradgroßen Sonnenhüten ähnlich überdimensionierte Staubschutzbrillen tragen.

Tragisch dann das Ende dieser gebildeten und lebenslustigen Frau. Am 10. September 1942 werden Lina Erlanger und ihr Ehemann nach Theresienstadt deportiert, im Mai 1944 kommt sie nach Auschwitz und wird nach dem Krieg für tot erklärt. Bei einem "Tag der Archive", der unter dem Motto "Mobilität im Wandel" steht, werden ihre Reisetagebücher erstmals einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Thomas Knapp ist nach wie vor begeistert von diesem Fund: "Zeitgeschichtliche Dokumente aus dieser Ära in einer so bestechenden Qualität, das dürfte ziemlich selten sein."

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