Kampf gegen Prüfungsangst

30.5.2016, 17:04 Uhr
Kampf gegen Prüfungsangst

© John Dow/photocase.de

Frau Siems, Lampenfieber klingt so niedlich...
Marion Siems: Die Menschen, die zu mir kommen, sagen beim ersten Anruf oft: Das, was ich habe, ist viel mehr als Lampenfieber.

Wer ruft denn an?
Siems: Ganz unterschiedliche Menschen aus verschiedenen Berufen. Ich unterscheide vier Gruppen: Die einen sind Menschen, die Gruppen anleiten, das aber nicht regelmäßig tun — wie zum Beispiel Yogalehrer oder Hebammen. Andere müssen Vorträge halten und präsentieren. Sie arbeiten oft in der Wirtschaft oder im Marketing, aber auch Studierende sind darunter. Dann gibt es Menschen, die andere überzeugen müssen — als Betriebsräte oder in der Personalvertretung. Zur vierten Gruppe gehören die, die ein Vorstellungsgespräch haben oder sich auf ein Assessment-Center vorbereiten.

Kampf gegen Prüfungsangst

© Foto: Gabriele Koenig

In den meisten Fällen ist die Angst vorm Auftritt also eine berufliche?
Siems: Es gibt auch die, die einfach mal sprechen wollen bei einem Familienfest oder am Elternabend. Sie erleben "Ich möchte auch mal was sagen. Warum traue ich mich nicht?" und möchten das ändern.

Was spüren diese Menschen in der Auftrittssituation?
Siems: Das kennen Sie doch bestimmt, das hat jeder schon erlebt: Es wird einem heiß und kalt, der Schweiß bricht aus, der Magen grummelt, leichte Übelkeit steigt auf, die Hände zittern und die Knie wackeln. Das kann sich steigern.

Bis wohin?
Siems: Dass man schon Tage vorher nicht mehr schlafen kann, bis zur Atemnot.

Dass man ohnmächtig wird?
Siems: Die Angst ist immer da — aber dass das wirklich passiert ist, habe ich noch nicht gehört. Von Blackouts, einer Art Ohnmacht des Gehirns, dagegen schon.

Ein Ratschlag gegen Lampenfieber heißt, man müsse sich die Zuhörer einfach nackt vorstellen.
Siems: Das finde ich ganz furchtbar! Weil damit eine vermeintliche Steigerung des eigenen Selbstwerts auf Kosten anderer erzielt wird.

Gemeint ist doch vermutlich: Die anderen sind auch nur Menschen...
Siems: Das lässt sich auch anders vermitteln. Aus meiner Sicht ist es besser, sich vor der gefürchteten Situation Gedanken zu machen: Vor wem spreche ich? Was will ich vermitteln? Was sollen die anderen mitnehmen können? Und dies dann auf freundliche, respektvolle Art und Weise dem Publikum nahezubringen. Es geht ja auch darum, dem anderen zu begegnen.

Menschen mit Charisma scheinen das alles mühelos zu bewältigen. Wie machen die das?
Siems: Ich glaube, sie haben ganz viel an sich gearbeitet — oder sind sich durch positive Erfahrungen, die sie gesammelt haben, ihrer Persönlichkeit und ihrer Stärken bewusst. Der größte Unterschied zu allen, die Angst haben, ist, dass sie sich auf die Sache konzentrieren. Sie wollen ihre Inhalte vermitteln und freuen sich auf die Gelegenheit, das kundzutun. Diese Leidenschaft springt über. Menschen, die sich sorgen, kreisen dagegen oft um den Gedanken "hoffentlich blamiere ich mich nicht" und die Frage "wie komme ich bei den anderen an?".

Wie gelangt man in den beneidenswerten Zustand, sich auf eine Auftrittssituation sogar zu freuen?
Siems: Indem man sich klarmacht: Was für eine Situation ist das? Was will ich erreichen? Natürlich kann man sich das vom Kopf her einhämmern, aber dann knicken doch die Knie weg. Die Angstspirale dreht sich, die inneren Stimmen werden übermächtig. "Spätestens beim Auftritt wird jeder merken, dass du nichts draufhast", sagen sie. Damit sind wir schnell bei den Kindheitsgeschichten, beim ersten Referat, bei dem man ausgelacht worden ist, beim Sport oder dem Vorsingen und den hämischen Kommentaren des Lehrers oder der Mitschüler. Vor solchen Gefahren bewahren uns die inneren Stimmen.

Deshalb geht es nicht darum, sie loszuwerden, sondern mit ihnen umzugehen und dem Perfektionisten oder dem Vermeider in uns zu sagen: "Also hört mal zu: Ich bin jetzt 48, ich kann das. Und wenn ich fertig bin, können wir uns wieder miteinander beschäftigen."

Haben Sie auch ganz praktische Tipps?
Siems: In der Auftrittssituation bin ich exponiert. Ich spreche vor einer Gruppe, zu der ich im Moment nicht dazugehöre. Das löst einen Adrenalinschub aus, der Körper bereitet sich auf Kampf oder Flucht vor. Nur dass wir heute nicht mehr gefressen werden, sondern uns blamieren können. Bewegung hilft — sie baut Adrenalin ab.

Hilft auch, auszusprechen, dass man aufgeregt ist?
Siems: Das hängt von der Situation ab. Bei einem Vortrag nimmt es vielleicht Spannung heraus, im Vorstellungsgespräch macht es keinen guten Eindruck. Es kommt darauf an, wie authentisch man gerade sein möchte. Ein schöner Satz der Psychoanalytikerin Ruth Cohn dazu lautet: "Nicht alles, was echt ist, will ich sagen, doch was ich sage, soll echt sein."

Sie selbst sind systemische Beraterin und Familientherapeutin. Wie bringen Sie dieses therapeutische Wissen ein?
Siems: Die systemische Beratung ist lösungsorientiert und arbeitet viel an den Stärken, statt sich auf Probleme und Schwächen zu konzentrieren. Menschen können viele schlimme Dinge erleben, sie bewältigen sie aber auch oder kompensieren auf anderen Gebieten. Mit einem guten Selbstwertgefühl und dem Bewusstsein eigener Stärken lässt sich ganz anders auftreten.

Und wann haben Sie zuletzt Auftrittsangst gespürt?
Siems: Im vergangenen Sommer, als ich im Westbad auf den Fünf-Meter-Turm gestiegen bin und unten stand eine Horde Jugendlicher und schaute. Ich wusste: Es gibt nur einen Weg - runter. Als ich gesprungen bin, haben alle geklatscht.

Mehr Informationen unter www.siems-perspektiven.de
Der nächste öffentliche Workshop zum Thema "Mehr Sicherheit gewinnen beim Sprechen vor Gruppen" findet am 16. Juli von 10 bis 18 Uhr statt.

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