Kleine Schritte ins Verbrechen

10.3.2009, 00:00 Uhr
Kleine Schritte ins Verbrechen

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Alle zwei Jahre veröffentlicht es dazu ein Jahrbuch, das 2008 dem Schwerpunktthema «Entrechtung und Enteignung» gewidmet ist – zur Erinnerung an den von den Nationalsozialisten organisierten Pogrom vom 9./10. November 1938 vor 70 Jahren. Die in dieser Nacht verübten Untaten bedeuteten den Übergang von der Diskriminierung der deutschen Juden hin zu ihrer systematischen Vernichtung.

Ein Hebel dazu war die Arisierung: die Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz der jüdischen Bürger und der damit verbundene Besitztransfer ihres Eigentums in die Verfügungsgewalt deutscher «Volksgenossen». Es handelte sich um die wohl systematischste und gigantischste Raubaktion der neueren Geschichte der Menschheit, die bis heute im öffentlichen Bewusstsein nur spärlich vorhanden ist.

Ein ganzes Volk, vom Säugling bis zum Greis, hatte daran Anteil. Bombenopfer trugen Kleider der ermordeten Juden und waren dem Staat für diese «Hilfe» dankbar. Bei öffentlichen Versteigerungen des Hausrats früherer jüdischer Besitzer stürzten sich die «Volksgenossen wie die Aasgeier auf die warmen Judensemmeln», vermerkt ein Protokoll der Oberfinanzdirektion Nürnberg von 1941. In Pionierarbeit zu diesem Themenfeld hat Jim Tobias deren federführende Rolle in dem Verbrechen untersucht. Bei seinen Recherchen stieß er prompt auf Hindernisse.

Waren Unternehmer wirklich nur Mitläufer?

Einer, der von «Arisierungen» enorm profitierte, war Gustav Schickedanz, der Gründer des Versandhauses Quelle. In seinem Beitrag weist Peter Zinke nach, dass er in Franken mindestens zehn große Betriebe und Grundstücke, die vorher Juden gehörten, zu einem Schnäppchenpreis übernahm.

Darunter befanden sich die lukrativen Vereinigten Papierwerke A.G. (Camelia) in Heroldsberg. Bei seinen Mitteln war der Quelle-Chef nicht zimperlich. Den sich sträubenden Besitzern soll er laut Zeugenaussagen mit KZ-Einweisung dank seiner guten Beziehungen zur NSDAP-Gauleitung gedroht haben.

Diese aber, angeführt von Julius Streicher, war eine politisch kriminelle Bande, die sich skrupellos, raffgierig und auf diese Weise einzigartig in Deutschland mittels Arisierungen um Millionen Reichsmark bereicherte. Schickedanz, nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Entnazifizierungsverfahren als «Mitläufer» eingestuft, hat mit dem Aufbau der Firma Quelle zu einem internationalen Unternehmen in der Bundesrepublik Firmen- und Wirtschaftsgeschichte geschrieben. Doch bleibt er eine historisch belastete Person.

Sein Name steht exemplarisch dafür, dass sich der Nationalsozialismus in Deutschland auf ein hohes Maß an Zustimmung und Opportunismus stützen konnte. Dieses einzugestehen fällt der Stadt Fürth aufgrund der Erfolgsgeschichte des Versandhauses außerordentlich schwer. Darstellungen darüber zeichnen sich durch mehr oder weniger auffallende Lücken in der NS-Zeit aus.

Kissinger war keine Lichtgestalt

Auch bei dem wohl berühmtesten Sohn der Stadt, Henry Kissinger, der als Jude vor den Nazis emigrieren musste, fixiert die offizielle Fürther Sicht den Friedensnobelpreisträger als eine Lichtgestalt in Diplomatie und Außenpolitik. In seiner Funktion als Sicherheitsberater von Präsident Richard Nixon in der Zeit des Vietnamkrieges und als US-Außenminister 1973 trägt er hingegen die politische und moralische Mitschuld für eine Reihe von Untaten, die Tausende von Menschen das Leben kostete (Vietnamkrieg, Bombardierung von Laos und Kambodscha ohne Kriegserklärung, Militärputsch in Chile 1973, Besetzung Osttimors 1975 u.a.).

Von namhaften Juristen, Journalisten und Menschenrechtsorganisationen hat ihm das den Vorwurf eines Kriegsverbrechers eingebracht. Auch das mag man nicht wahrnehmen. Josef Moe Hierlmeier verweist in dem Beitrag auf die entsprechenden Hintergründe. So liefert die Kleeblattstadt eindrucksvolle Beispiele für kommunalpolitisch gefärbte und verklärende Blicke.

Die beunruhigende Parallelität der beiden höchst unterschiedlichen Fälle – Kissinger als ein Spitzenpolitiker der Weltmacht USA im Kalten Krieg hat mit dem NS-Rassenwahn von Entrechtung und Enteignung der jüdischen Minderheit nichts gemein – verleiht dem Buch zusätzliches Profil und lässt den umfassenden Spannungsbogen des Jahrbuchs erkennen.

Weitere Kapitel beschreiben die Spuren der Gewalttaten des 9. November 1938 in der bildenden Kunst jüdischer und nichtjüdischer Künstler, beispielsweise bei Marc Chagall, Felix Nussbaum oder Anselm Kiefer (englischsprachig) oder die Rolle von Streichers antisemitischer Hetzschrift «Der Stürmer» bei der «Arisierung» in Berlin.

Es geht ferner um die prekäre Situation von Holocaust-Überlebenden und die Rückgabe von NS-Raubgut in Israel und die kontroversen Haltungen von Menschen jüdischen Glaubens zu dem Apartheidregime in Südafrika. Autoren befassen sich mit dem Schicksal jüdischer Fußballstars in Deutschland nach dem NS-Machtantritt 1933, mit dem Ende der jüdischen Gemeinde im unterfränkischen Memmelsdorf, mit der Situation von Holocaust-Überlebenden in Schweden sowie mit der 1958 in Köln gegründeten Spezialbibliothek Germania Judaica und ihrer Bedeutung für Wissenschaft und Forschung.

Das Ergebnis ist ein hervorragend gelungener Band, der gleichermaßen einem interessierten Lesepublikum wie der Fachwelt zu empfehlen ist.

Jim G. Tobias/Peter Zinke (Hg.): Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte. Schwerpunktthema: Entrechtung und Enteignung. Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts (Nurinst 2008), Antogo Verlag, 184 Seiten, 12,80 Euro.

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