Nürnbergerin: "Ich bin keine Transsexuelle, ich bin eine Frau"

27.9.2014, 15:03 Uhr
Nürnbergerin:

© Stefan Hofer

Sarah B. will einfach nur in der Masse untergehen. Ganz normal sein. So wie an diesem Samstagmittag im September, als sie gerade mit ihrer Frau und der gemeinsamen Tochter das Einkaufszentrum nahe der Lorenzkirche verlässt und in den Menschenstrom der Fußgängerzone eintaucht. Es nieselt. Aber das stört die drei nicht.

Hier, in Nürnberg fühlt sich Sarah B. wohl. „Wir haben Glück“, sagt die blondierte 28-Jährige. „Hier falle ich nicht auf, hier gibt es Punks, Emos, Gothics oder Manga-Mädchen.“ Woanders, auf dem Land etwa, da gibt es keine Masse zum Untergehen. Braunes Halstuch, weißer Strickpullover, rot-schwarze Jacke mit Knöpfen – obwohl sie sich unauffällig kleidet, würde sie dort auffallen. Denn die ausgebildete Pflegedienstleiterin, die bei der Stadtmission als Altenpflegerin arbeitet und Mitarbeitervertretung von über 300 Angestellten ist, durchlebt einen unübersehbaren Wandel. Einen Wandel vom Mann zur Frau.

"Ich war nie der typische Mann", sagt Sarah B. So weit sie sich zurückerinnern kann, fühlt sie sich im falschen Körper geboren. Ende 2013 entschloss sie sich zur Geschlechtsumwandlung. Dass sie das nicht bereut, merkt man ihr bei jedem ihrer Schritte förmlich an.

Sarah B., die mit Absätzen etwa 1,75 Meter groß ist, geht ihren eigenen Weg. Seit zehn Monaten nimmt sie weibliche Hormone. Dadurch werden unter anderem die Gesichtszüge weicher, die Brust wächst. „Extrem störend ist für mich der Bartschatten“, sagt die 28-Jährige. Den kann selbst Make-up nicht vollständig überdecken. Mit Nadelepilation lässt sie deshalb ihren Bartwuchs dauerhaft stoppen. Eine schmerzhafte Prozedur, für die viele Sitzungen bei einer Elektrologistin nötig sind.

Ehe durfte nicht mehr annulliert werden

Eine andere Veränderung ist schon hörbar: Sarah B. spricht wie eine Frau. Die weibliche Stimmlage lernte sie bei einer Logopädin. Bis die äußerliche Umwandlung vollständig abgeschlossen ist, dauert es einige Jahre, erklärt sie. Auf dem Papier ist Sarah B. bereits seit dem 8. August offiziell eine Frau. Zwei voneinander unabhängige Gutachter hatten sich davor mit ihr befasst. „Ich bin keine Transsexuelle, ich bin eine Frau“, sagt die 28-Jährige, während sie ihre zweijährige Tochter Viola vom Ausbüxen abhält. Niemand nimmt groß Notiz von der kleinen Familie. Eher richten sich die Blicke gen Himmel, wo die Wolken immer dunkler werden.

Als Viola sich erneut davonmachen will, greift Sarah B.s Frau ein: die 23-jährige Sandra B. Die beiden sind mit wenigen Ausnahmen das einzige gleichgeschlechtliche Paar in Deutschland, das in einem richtigen Eheverhältnis lebt und nicht in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft. Die Erzieherin und Sarah B. lernten sich vor vier Jahren kennen. Sie heirateten noch vor der Geschlechtsumwandlung. Im Nachhinein darf ihre Ehe nicht mehr annulliert werden. Auch das Tattoo über Sarah B.s rechter Brust bleibt. Dort steht ihr Hochzeitsdatum. Und „Sandra“. Im Juli 2012 kam ihre Tochter Viola zur Welt.

Das quirlige Mädchen mit den blonden lockigen Haaren, die zu zwei Zöpfen gebunden sind, hat schon jetzt ihren eigenen Kopf. Sandra B., zierliche Figur, braunes Haar, Pferdeschwanz, versucht vergebens, die Kleine in ein Tragetuch vor ihren Bauch zu wickeln. Viola will nicht schlafen, am liebsten würde sie jeden Hund streicheln, der ihr über den Weg läuft, denn sie liebt Hunde. „Die Kinder in der Kita fragen natürlich, wo Violas Papi ist“, erzählt Sarah B., „dann antworten wir, sie hat zwei Mamis und damit geben sie sich zufrieden.“

Früher, als Sarah B. noch Benjamin B. war, beschäftigte sie sich viel mit Rollenspielen auf der Konsole. Früher, als sie noch Benjamin B. war, war sie zudem eineinhalb Jahre bei der Bundeswehr. „Das war eine geile Zeit“, erinnert sie sich.

"Ich bin viel sensibler geworden"

Das „Früher“ kommt auch heute noch manchmal durch. Aber nur, wenn Sarah B. ihr Hormongel, das sie alle acht Stunden aufträgt, mal vergisst: „Neulich“, erzählt sie schmunzelnd, „da bin ich mit dem Roller von der Arbeit nach Hause gefahren und habe gebrüllt und geflucht, weil mir ein älterer Mann mit seinem Wagen den Weg abgeschnitten hat.“ Das passt eigentlich gar nicht mehr zu ihr. Die Hormone machen nicht nur ihren Körperbau filigraner. „Ich bin viel sensibler und einfühlsamer geworden“, sagt die 28-Jährige.

Sonst spürt sie selbst kaum charakterliche Veränderungen, ihr Umfeld ebenso wenig. „Sie hat nur das Aussehen verändert“, sagt ihre Frau Sandra B., die ansonsten recht zurückhaltend ist. „Der Mensch ist der Gleiche geblieben und ich habe mich ja in den Menschen verliebt.“ Sarah B. hat noch das männliche Geschlechtsteil, geht aber schon länger auf die Damentoilette. Eine Operation kommt für sie erst dann infrage, wenn die Medizin weiter entwickelt ist. „Bevor ich ewig Schmerzen habe, warte ich auf das Laserverfahren“, sagt sie. „Meine Frau stört das nicht.“

In der Arbeit zieht sie sich in einer Einzelkabine um. Bei den Männern will sie sich nicht mehr umziehen und bei den weiblichen Kollegen, die sie noch als Benjamin B. kennen, „wäre das auch irgendwie komisch“. Dass sie nun als Frau weiterleben möchte, akzeptierten die älteren Menschen in der Pflegeeinrichtung sofort. „Nur meine Oma hat ein bisschen gebraucht“, sagt Sarah B. Ihre Mutter hingegen hatte sich schon gewundert, warum sie nicht früher damit rausgerückt ist. „Vielleicht lag es daran, dass ich Brüder habe“, sagt Sarah B.

Sarah B. ist das Gegenteil einer Drag Queen

„Die Reaktionen auf Transsexuelle hängen auch oft vom Charakter des Einzelnen ab“, erklärt sie. Sie war schon in der Schule immer beliebt. Ob sie nun ein Mann oder eine Frau ist: Sarah B. kommt gut an bei ihren Mitmenschen. Diskriminiert worden ist sie bisher nur zweimal. Von Menschen, die ihren Charakter nicht kennen.

„Schaut mal, das ist doch eine Transe”, hörte Sarah B. einmal jemanden aus einer Gruppe Jugendlicher rufen, die abends am Hauptbahnhof herumlungerten. Ein andermal kam sie mit Sandra B. gerade aus dem Kino, als sie dumm angeredet wurden. „Aber das juckt mich nicht“, sagt die Altenpflegerin. „Man muss zu sich selbst stehen.“ Auch wenn Transsexualität in der Psychologie immer noch als Krankheit gilt und diagnostiziert werden muss, bevor eine offizielle Umwandlung überhaupt möglich ist. „Man muss willensstark sein und sich die Zeit geben.“

Sarah B. ärgert sich über diejenigen, die um jeden Preis auffallen wollen. Oftmals werden deswegen viele sexuelle Prägungen missverstanden oder vermischt. Zur öffentlichen Meinungsbildung tragen dann so schrille Charaktere wie die extrovertierte Travestiekünstlerin Olivia Jones bei.

Kurz verharrt Sarah B. im Regen am Pegnitzufer, ihre Tochter auf dem Arm, jenseits aller Klischees. Sie ist das Gegenteil einer extravaganten Drag Queen. Deshalb wählte sie bewusst einen Namen wie Sarah, einen Allerweltsnamen. Sie und ihre Frau schrieben eine ganze Auswahl alltäglicher Namen auf kleine Zettel, dann losten sie. „Wir haben das Schicksal entscheiden lassen“, sagt Sarah B., die einmal Benjamin B. war und jetzt genauso gut Franziska B. heißen könnte, die einmal ein Mann war und jetzt eine Frau ist, die aber vor allem eins war und ist: ein und derselbe Mensch.