Politische Parolen gegen die "Schneegänse"

12.11.2018, 18:02 Uhr
Politische Parolen gegen die

© Foto: Eduard Weigert

Ein wenig verwundert sind die Passanten schon, die an diesem Nachmittag am Königstorgraben vor dem K4 auf eine Gruppe von Frauen in historischen Gewändern treffen. Sie könnten geradewegs einem der Fernsehfilme entsprungen sein, die derzeit das Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren und die daraus resultierenden politischen Folgen dokumentieren. Die Kostümierten tragen Schilder mit Sprüchen wie "Frauen wählen, die für Frauenrechte kämpfen", "Bildung für Frauen und Mädchen weltweit" oder "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit". Forderungen, die nach wie vor aktuell sind.

So ist auch der ganze Rundgang konzipiert: Vergangenheit geht in Gegenwart über. Ein Teil der Verdi-Frauen, die für die Organisation der Veranstaltung zuständig waren, stellen Frauenrechtlerinnen oder Arbeiterinnen von einst dar, die anderen sind als Gewerkschaftsmitglieder von heute dabei.

Die in Frauengeschichte seit Jahren versierte Nadja Bennewitz führt die etwa 70 Teilnehmerinnen zu verschiedenen Stationen und erklärt, warum diese Orte vor 100 Jahren für Frauen in Nürnberg eine wichtige Rolle spielten.

Politische Parolen gegen die

© Foto: privat

Am 4. November 1918 versammelten sich in mehreren deutschen Großstädten Frauen zu Kundgebungen für ihr Stimmrecht. In Nürnberg strömten zu diesem Zweck Bürgerinnen aus allen politischen Lagern in den Festsaal des damaligen Künstlerhauses. Unter ihnen die "Frauenrechtlerin des Frankenlandes", Bertha Kipfmüller, die dem radikalen Flügel der hiesigen Bürgerlichen Frauenbewegung angehörte.

Sie war Lehrerin und studierte an der Universität Heidelberg die Fächer Germanistik, Sanskrit und vergleichende Sprachwissenschaften. In Bayern waren Frauen zu dieser Zeit nicht zum Studium zugelassen. 1899 hatte Kipfmüller bereits promoviert, fast 30 Jahre später erwarb sie an der Universität Erlangen einen zweiten Doktortitel. Sie ließ sich gerne mit "Fräulein Doktor" ansprechen, aus einem einfachen Grund: "Jede Schneegans nennt sich in Bayern immer noch Frau Doktor, weil der Mann es ist", zitiert Bennewitz aus einer Schrift der Kipfmüller.

Eine maßgebliche Vertreterin der proletarischen Frauenbewegung in Nürnberg war Helene Grünberg. Die gebürtige Berlinerin wurde 1905 als Gewerkschaftssekretärin nach Franken berufen. Hier wirkte sie an der Verbesserung der Situation von Dienstbotinnen mit und motivierte sie, sich gewerkschaftlich zu organisieren.

Der 1906 gegründete "Verein der Dienstmädchen, Wasch- und Putzfrauen, Zugeherinnen usw. für Nürnberg und Umgebung" wurde zum Vorbild für ähnliche Vereine in 20 Städten des Deutschen Reichs.

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© Abbildung aus dem Buch: „Grüße aus Nürnberg“

Zurück zur Gegenwart: Vom K4 startet der Spaziergang in Richtung Königstraße – und zwar mit Gesang. Bennewitz hat die Texte zu Gewerkschaftsliedern wie "Brot und Rosen" verteilen lassen, für musikalische Begleitung vom Band ist ebenfalls gesorgt.

Vor dem Gewerkschaftshaus am Kornmarkt macht der Zug halt. Dort stellt sich die Frage, warum die Gewerkschafter Helene Grünberg nicht durch eine Gedenktafel oder etwas ähnliches gewürdigt haben. Antwort gibt Verdi-Mitglied Gudrun Frank, die in die Rolle von Grünberg schlüpft. In einer Rede erklärt sie, gewerkschaftlich aktive Männer hätten das bisher "mit schlechten Argumenten" verhindert. Lediglich eine Straße in Zabo, gerade einmal fünf Häuser lang, trägt Grünbergs Namen – ausgerechnet eine Sackgasse!

Grünberg wurde in der Weimarer Republik Mitglied der Verfassungsgebenden Versammlung. Politisch engagierte sie sich besonders gegen den Abtreibungsparagraphen 218 – vergeblich. Die Räte-Revolution hatte sie glauben lassen, dass andere ihrer Ziele bald erreicht werden könnten. Aber auch diese Hoffnung zerschlug sich. Schließlich beging Grünberg 1928 Selbstmord.

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Der Zug durch die Innenstadt geht weiter in die Karolinenstraße. Vor der Hausnummer 43 wird die "Arbeitermarseillaise" angestimmt. Der Nürnberger Arbeitergesangsverein gab dieses Stück bei Feiern in den 1890er Jahren gern zum Besten. Bennewitz verrät, warum sie gerade diese Station in ihren Rundgang eingebaut hat: Dort befand sich einst das luxuriöse "Hotel Strauß", in dem die Vertreterinnen der Bürgerlichen Frauenbewegung 1893 die Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins abhielten. Die Tagung, an der 700 Damen und Herren – auch Nürnbergs Erster Bürgermeister Ritter Georg von Schuh gab sich die Ehre – sowie einige wenige Arbeiterinnen teilnahmen, endete mit der Gründung des bürgerlichen Vereins "Frauenwohl".

Angeregt hatte diese große Veranstaltung Bertha Kipfmüller, die sich dazu die Unterstützung der Augenarztgattin Helene von Forster sicherte. Diese verschaffte Kipfmüller die notwendigen Kontakte zur Crème de la Crème der Gesellschaft.

Später, bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, gab von Forster ihre frauenpolitischen Aktivitäten auf, um im Lazarett des Roten Kreuzes mitzuarbeiten. Die medizinischen Kenntnisse dafür brachte sie aus der Praxis ihres Mannes mit. Sie starb jedoch noch während ihrer ersten Amtsperiode im Nürnberger Stadtrat an einer schweren Krankheit am 21. März 1923.

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Beim Weiterlaufen erläutert Nadja Bennewitz, wie es zu Vereinsgründungen der Nürnberger Arbeiterinnen kam. Impulsgeberin und Organisatorin der Proletarischen Frauenbewegung in Nürnberg war Louise Fischer. Allerdings scheiterte 1885 der erste Versuch einer Vereinsgründung an der Polizei und dem – männlichen – Magistrat. Beim zweiten Anlauf, sieben Jahre später, klappte es dann: Der "Frauen- und Mädchenbildungsverein" wurde ins Leben gerufen. Er sollte aber nur zwei Jahre lang bestehen bleiben.

Die Arbeiterinnen kämpften für höhere Löhne – Frauenlohn lag bis zur Hälfte unter dem der Männer –, außerdem für eine Verkürzung der Arbeitszeit. Da sie oft unter gefährlichen Arbeitsbedingungen schufteten, wurde auch überlegt, ob man den Arbeitsschutz mit auf die Liste mit den wichtigsten Forderungen setzen sollte. Die Frauen befürchteten, besserer Arbeitsschutz könnte dazu führen, dass manche ihrer Arbeitsplätze verloren gehen. Die Frauen waren jedoch auf jeden einzelnen Arbeitsplatz angewiesen – ohne ihren Beitrag zum Haushalt hätte das Geld nicht ausgereicht, die Familien durchzubringen.

Ende 1894 erhielten die aufmüpfigen Frauen die Quittung

Immer wieder kamen führende Vertreterinnen der reichsweiten proletarischen Frauenbewegung nach Nürnberg, darunter auch die bekannte Clara Zetkin. Am 15. Oktober 1894 kam es bei den Vorstandsmitgliedern des Frauen- und Mädchenbildungsvereins zur Hausdurchsuchung, zudem wurden die Kassenbücher beschlagnahmt. Am 17. Oktober wurde die Auflösung des Vereins verfügt; 121 Mitglieder erhielten ein Strafmandat.

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© Foto: Weigert

Der Rundgang endet am Rathaus Wolff’scher Bau. Dort waren seit dessen Erbauung Frauen gar nicht vorgekommen – sieht man einmal von den beiden weiblichen Allegorien Justitia und Sapientia über dem Eingang ab. Deshalb lässt Bennewitz an diesem Ort das Lied "Raus mit den Männern!" anstimmen, das Friedrich
Hollaender im Jahr 1926 für die Chansonnière Claire Waldoff geschrieben hat.

Erst nach den Stadtratswahlen im Juni 1919 zogen zum ersten Mal Frauen ins Rathaus ein und beendeten die reine Männerwirtschaft, die dort 400 Jahre lang geherrscht hatte.

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