Ponys und Gänse: Debatte um irrationale Tierethik

20.11.2018, 05:54 Uhr
Früher verendeten Pferde auf der Straße, heutzutage empören abgeschossene Kanadagänse. Ein konkreter Tötungsakt vor aller Augen – wie am Wöhrder See geschehen – entsetzt viele.

© Foto: E. Weigert Früher verendeten Pferde auf der Straße, heutzutage empören abgeschossene Kanadagänse. Ein konkreter Tötungsakt vor aller Augen – wie am Wöhrder See geschehen – entsetzt viele.

Der gebürtige Würzburger Peter Kunzmann (52) ist diplomierter katholischer Theologe, hat seit 2004 eine Professur in Philosophie an der Uni Würzburg inne und ist seit 2015 Professor für Angewandte Ethik in der Tiermedizin an der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover. Mit Sabine Göb von der Nürnberger Zeitung spricht er über den Unterschied zwischen Kanada- und Martinsgänsen, über Zirkuspferde und Versuchskaninchen – über die Fragen der Tierethik, die in den vergangenen Monaten in Nürnberg zu heftigen Debatten führten.

Herr Professor Kunzmann, in Nürnberg bekam der zweite Bürgermeister Drohbriefe, nachdem die Stadt acht Gänse am Wöhrder See abschießen ließ. Wie ist das in einer Region, in der zum 11. November Zigtausende Martinsgänse ganz selbstverständlich geschlachtet wurden, zu erklären?

Peter Kunzmann: Um es einmal aufzuteilen: Hochgradig irrational und absolut unverständlich ist das Verhalten von Leuten, die dem Bürgermeister an Leib und Leben wollen. Eine Erklärung, warum Menschen hier so ausrasten, gibt es in der Kommunikationsforschung bei Professor Bernhard Pörksen: Skandalisiert wird, was missfällt, da sind Handlungen an Tieren besonders emotional aufgeladen.

Gerade in Zeiten des Internets, der sozialen Medien, ist es ein Phänomen, dass es die Leute erst einmal furchtbar aufregt, wenn jemand etwas tut, das sie so nicht tun würden und nicht teilen können. Dann ist es nicht nur eine Fehlentscheidung, sondern immer gleich ein Skandal. Das ist das allgemeine Hintergrundrauschen, das geht in vielen Fällen so, bei Tieren ganz besonders.

Das Schicksal der Martinsgänse ist weit weg von der Lebenswirklichkeit der Menschen. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass das Töten von Tieren früher viel mehr Teil des Alltags der Menschen war. Das ist vorbei. Beispielsweise müssen Tierärzte ein Schlachthofpraktikum machen und da fiel uns auf, dass es früher, seit dem 19. Jahrhundert, überall kommunale Schlachthöfe gab, die sind weggefallen und sind heute Kulturzentren. In meiner Kindheit sah man in Würzburg beim Vorbeifahren jeden Tag die Rinder stehen und wusste, die überleben den Tag nicht.

Diese Erfahrung machen Menschen nicht mehr; dass Tiere getötet werden, ist aus dem Alltag dissoziiert. Man sieht sie als Essen oder sieht sie verpackt im Supermarkt, den Bezug zum lebenden Tier macht kaum jemand. Wenn es zum konkreten Töten kommt, ist das noch weiter weg, außer jemand ist Jäger oder Angler. Umso schlimmer ist es dann, wenn ein konkreter Tötungsakt vor aller Augen stattfindet, wie es am Wöhrder See war.

Kann man das auch positiv sehen? Dass es heute mehr Empathie für das Mitgeschöpf Tier gibt?

Kunzmann: Das könnte daran liegen, es gibt sehr viele Dynamiken, die da zusammenkommen. Was sich in den letzten 40 Jahren zweifellos verändert hat, ist eine große Aufwertung von Tieren, insofern ist das selbstverständliche Töten von Tieren für die allermeisten Menschen überhaupt nicht mehr selbstverständlich. Deswegen regen sich Leute auch so auf, vielleicht steckt da eine größere Empathie dahinter.

Man könnte das auch so ableiten, dass Tiere, mit denen Menschen heute Kontakt haben, überhaupt eine Aufwertung erfahren haben. Sie sind in aller Regel Haustiere, "companion animals", Familienmitglieder und Kinderersatz, das haben wir in einer Studie herausgefunden. Leute machen Erfahrung an Tieren in der Rolle als Familienmitglied. Es sind Individuen, die man kennt. Wenn dann in anderen Mensch-Tier-Beziehungen Tiere ganz anders behandelt werden, ist der Schock umso größer.

Menschen leben heute mit Tieren anders zusammen, als es in unserer Kulturgeschichte der Fall war. Dazu kommt: Menschen deuten sich auch gern als Retter. Im Fall der Gänse gibt es das unschuldige Opfer – die Kanadagans. Es gibt jemand, der es bedroht – Bürgermeister und Jäger. Und dann bin ich da, der ich alles Recht auf meiner Seite habe und das unschuldige Opfer rette.

Kann man in diesem Fall überhaupt als Stadt richtig handeln?

Kunzmann: Ich unterstelle – da ich den Fall nicht persönlich kenne – der Stadt und den Leuten, die es gemacht haben, dass sie das getan haben, wozu sie verpflichtet sind, nämlich die mildesten Mittel anzuwenden. Was unglücklich gelaufen ist, ist der Kollateralschaden der angeschossenen Gans, das darf nicht passieren aus meiner Sicht, aber es passiert eben.

Umgekehrt muss man eben auch sagen, dass die Leute die Stadt auch angegangen sind wegen des herumliegenden Gänsekots. Das konnte man offensichtlich nicht so lassen, da ist der Bürgermeister im Dilemma, er kann es eigentlich nicht allen recht machen. Wir müssen uns auch daran gewöhnen, dass viele Wildtiere heute in der Nähe des Menschen leben und nicht mehr unabhängig vom Menschen leben. Es ist für eine Kanadagans auch nicht normal, fröhlich an badenden Nürnbergern vorbeizuwatscheln. Die haben begriffen, dass ihnen keine Gefahr droht, sie was zu fressen bekommen, sicher sind und das führt zu Vermehrung und zu Problemen, auch bei anderen Arten.

 

Gehen wir einen Schritt weiter: im Nürnberger Klinikum werden Tierversuche gemacht und auch hier gab und gibt es immer wieder Proteste. Was erregt die Menschen so an Tierversuchen?

Kunzmann: Bei Tierversuchen gibt es Gegner, seit es sie gibt. Bereits im 18. Jahrhundert, als man mit Tieren ganz anders umging, als man sich das heute vorstellen kann und will. Dies ist eine der Wurzeln der modernen Tierschutzbewegung, die "Antivivisektionisten". Der Tierversuch war nie unumstritten, das ist schon seit dem 18. Jahrhundert so, es gibt zeitgenössische Gemälde dazu.

Meine Theorie dazu ist, dass sie auch deshalb eher skandalisiert werden, weil sie schon immer außerhalb der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen stattgefunden haben. Es hat sie kaum jemand gesehen. Im Unterschied zum Schnitzel und zum Ponyreiten ist der Nutzen eines Versuches außerdem nicht sicher, es sind viele kleine wissenschaftliche Erkenntnisgewinne, die dann irgendwann einmal hoffentlich größere Erkenntnisse bringen. Tierversuche sind ergebnisoffen und es ist nicht sicher, was dabei herauskommt. Und ob sie immer das bringen, was sie sollen, wird von den Gegnern permanent bestritten; allein die Übertragbarkeit der Ergebnisse vom Tier auf den Menschen ist schon eine große Hürde.

Berührt uns das auch deshalb, weil wir uns in die Leiden des Tieres hineinversetzen?

Kunzmann: Da wäre ich vorsichtig. Es hat viele Menschen über Jahrhunderte überhaupt nicht gekratzt, was mit Tieren passiert. Ich glaube nicht, dass dieses Mitgefühl so tief in der Biologie der Menschen liegt. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es Dokumente, dass man Pferde so lange die Karren hat ziehen lassen, bis sie in den Sielen verendet sind und dann hat man die Kadaver einfach liegen lassen. Deshalb bin ich mit der naturgegebenen Empathie vorsichtig. Ich denke, da spielt eher eine Rolle, dass wir aufgrund der Forschung der Evolutionstheorie heute wissen, dass wir nicht so fundamental anders sind als die Tiere und das auf vielen Kanälen sehen. Wir sehen heute Tiere nicht mehr als komplizierte biochemische Automaten, die kein Innenleben haben.

Zum nächsten Aufreger: Ponyreiten im Wanderzirkus und auf Volksfesten. Warum ist das so ein Ärgernis für viele Tierschützer?

Kunzmann: Viele Menschen schämen sich heute, dass man überhaupt Tiere zur Belustigung einsetzt, wie mitunter im Zirkus. Wir sprechen heute Tieren Interessen zu, sie sind nicht nichts. Da gibt es dann immer eine gewisse Belastung, wenn Menschen ihnen etwas antun, etwas mit ihnen tun. Dann muss ich auf die andere Seite etwas legen, das dieses Tun rechtfertigt. Beim Tierversuch oder dem Abschuss der Gänse ist das die Gesundheit der Menschen. Beim Ponyreiten ist das Gegengewicht nicht so toll. Da reitet mein Enkel dreimal im Kreis, so wichtig ist das nicht. Da ist das Gegengewicht, der im Tierschutzgesetz festgeschriebene "vernünftige Grund" nicht so prickelnd.

Früher war es eine Attraktion, weil es für die Leute in der Regel nicht erschwinglich war, dass ihr Kind irgendwann mal auf einem Pferd sitzt. Das können sich heute aber viele leisten. Das, was damals eine Sensation war, einmal auf so einem Gaul zu sitzen, ist für uns heute aber nicht mehr so wichtig. Wenn man sich diese Waagschale vorstellt, dann sieht der Nutzen für den Menschen nicht so gut aus im Gegensatz dazu, dass es dem Tier unter Umständen nicht gut geht.

Unsere Mensch-Tier-Verhältnisse sind die "Endmoränen" von ganz vielen Mensch-Tier-Beziehungen. Und die sind in sich überhaupt nicht kohärent. Manche lieben wir, manche hassen wir, manche essen wir. Über Jahrhunderte haben wir uns dazu überhaupt keine Gedanken gemacht. Und jetzt überlegen wir vollkommen zu Recht, welche Gefühle, welche Interessen haben Tiere? Können sie leiden? Warum fügen wir ihnen Leiden zu? Vom Tier aus gedacht ist es ziemlich schräg gedacht, dass mein Würstchen zu essen ein vernünftiger Grund für das Töten sein soll, aber am Wöhrder See ohne Ekel ins Wasser zu steigen, soll keiner sein. Vom Tier aus gesehen ist das egal.

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