Suizid ist ein großes Tabu

27.5.2015, 19:37 Uhr
Suizid ist ein großes Tabu

© Foto: Holzschuh

Ein halbes Jahr danach kommt die Wut. Sie ergreift Agnes Rückel, wenn sie den Kirschbaum zurückschneidet, so wie es jedes Jahr getan werden muss. Beim Ablesen der Tüv-Plakette. Bei Dingen, die Franz sonst immer getan hat, „Männersachen eben“, sagt Rückel.

Vor 14 Jahren nimmt sich ihr Mann Franz das Leben. Am Morgen geht er noch in die Arbeit, am Abend aber kommt er nicht mehr nach Hause. Dafür stehen in der Nacht zwei Polizisten vor der Tür: Franz ist tot, Schienen-Suizid. Und Agnes Rückel bleibt mit den beiden Kindern, zehn und zwölf Jahre alt, zurück. Mit dem Haus, dem Alltag, vielen Fragen. Und dem Gefühl, mitschuld zu sein. Warum hat sie nichts gemerkt? Franz war zwar in der letzten Zeit etwas angespannt, hatte berufliche Probleme, doch dass er sich das Leben nehmen würde, daran hätte sie nie gedacht. Warum bloß nicht? Hat sie ihn nicht genug geliebt?

„Ein Suizid ist kein normaler Tod“, sagt Rückel heute, vierzehn Jahre danach. Ein Mensch stirbt, ohne dass sich die Angehörigen darauf vorbereiten können, oft ist Gewalt im Spiel, viele Angehörige machen sich danach Vorwürfe. Dann kommt die Wut.

Lange hat es bei Rückel gedauert, bis sie den Tod ihres Mannes einigermaßen verarbeiten und akzeptieren konnte. Eine Woche nach der Tat geht sie wieder arbeiten, es muss doch weitergehen, auch wegen der Kinder. Sie brauchen Halt und Stabilität. Und Agnes Rückel fühlt sich wie in eine dicke Wattewolke gepackt, aber sie funktioniert. Der Freundeskreis unterstützt sie, wo er kann, doch bald spürt Rückel: Andere haben Berührungsängste. Wie geht man mit einer Frau um, deren Mann sich mitten im Leben, mit nur 45 Jahren, das Leben genommen hat?

Ihre Eltern entscheiden sich für Schweigen, selbst an ihrem Hochzeitstag sprechen sie die Tochter nicht auf Franz an – wohl aus Angst, sie zu verletzen. Ein Freund hingegen legt an diesem Tag einen Blumenstrauß vor der Tür nieder, ein anderer ruft jedes Jahr an Franz’ Geburtstag an. Kleine Gesten, doch sie freuen Agnes Rückel und trösten zugleich.

Jedes Jahr sterben in Deutschland rund 10 000 Menschen durch einen Suizid – doppelt so viele wie durch Verkehrsunfälle. Doch die Hinterbliebenen haben immer wieder das Gefühl, über ihren Verlust nicht wirklich sprechen zu können. „Suizid ist ein großes Tabu“, sagt Rückel. Wer davon nicht betroffen ist, der kann ihre Gefühle nur schwer nachvollziehen.

Ein Jahr nach dem Tod ihre Mannes kommt Rückel das erste Mal mit dem Verein „Angehörige um Suizid“ (Agus) in Kontakt. Der Verband tagt damals in Bamberg, gut 120 Hinterbliebene treffen sich und Agnes Rückel hat zum ersten Mal das Gefühl, dass sie nicht allein ist. „Es gibt noch andere Menschen, denen es so wie mir geht.“

Gemeinsam mit anderen Betroffenen gründet sie im Oktober 2003 eine Nürnberger Agus-Gruppe. Einmal im Monat treffen sich hier rund 15 Hinterbliebene, sie reden und trauern miteinander und – das betont Rückel – sie können auch ganz offen ihre Wut auf den Verstorbenen herauslassen. Denn die verbindet wohl alle Hinterbliebenen, die Wut, dass der Mann, Bruder oder Sohn sich selber das Leben genommen hat. „In der Gruppe findet so eine Art Seelenhygiene statt“, sagt Rückel. „Man kann seine eigene Trauer spiegeln.“

Rückel, heute 57 Jahre alt, hat ihre inzwischen gut verarbeitet. „Ich bin wieder im Leben angekommen.“ Die Kinder sind erwachsen, sie selber in einer neuen Beziehung. Bei Agus hilft sie heute denjenigen, die den Suizid eines Angehörigen noch verarbeiten müssen. Sie hört zu, wenn sie über das Unbegreifliche sprechen. Gibt Halt und Trost. Spricht vor Schülern und anderen Gruppen. Wirbt für eine Enttabuisierung des Suizids. „Das alles kann ich nur tun, weil es mir gut geht.“

Dennoch, Franz ist 14 Jahre nach seinem Tod nicht vergessen: Zu seinem 50. Geburtstag etwa lud sie die Freunde ein, es gab Kaffee und Kuchen, dann einen Winterspaziergang zum Friedhof, sie zündeten Kerzen am Grab an. Mancher habe sich dabei sicherlich unwohl gefühlt, sagt Rückel, doch ihr tat es gut.

Ihr Mann werde in ihrem Leben immer einen Platz haben. Und im Haus in Burgthann auch. Im Wohnzimmer hat Franz seine Ecke: eine Rose, Herzen, sein Foto. Es zeigt einen Mann, der fröhlich in die Kamera lächelt.

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