Tatort Nürnberg: Der "Vampir" saugte Blut aus seinen Opfern

20.11.2018, 06:00 Uhr
Blick auf das Nürnberger Krematorium in den 1990er Jahren: Hier schoss der gehörlose Täter auf einen Angestellten.

© Foto: Michael Matejka Blick auf das Nürnberger Krematorium in den 1990er Jahren: Hier schoss der gehörlose Täter auf einen Angestellten.

Es gibt Orte, an denen einen Schritte, ein Schnaufen oder ein Räuspern aufschrecken lassen. Man rechnet zum Beispiel nachts im Krematorium nicht mit einer weiteren Person - jedenfalls mit keiner, die noch lebt. So ähnlich ergeht es Georg W. am 5. Mai 1972. Der städtische Angestellte sitzt gegen 22.30 Uhr in der Dienstwohnung des Krematoriums am Nürnberger Westfriedhof. Die Totenstille, die sich in den dunklen Gängen ausgebreitet hat, die zur Leichenhalle führen, vertreibt er mit dem launigen Programm im Fernsehen.

Plötzlich klingelt das Telefon. Eine Nachbarin. Sie macht den Wärter auf eine Gestalt aufmerksam, die sie über den Friedhof huschen sah, so ist es später in den Polizeiakten zu lesen.

Immer wieder hatte es Beschwerden von Hinterbliebenen gegeben, die sagten, dass sie Schmuck vermissen, den ihre verstorbenen Angehörigen noch getragen hätten. Auch die Kaffeekasse der Friedhofsabteilung wurde regelmäßig geplündert, Kollegen hatten sich schon gegenseitig verdächtigt. Doch Georg W. ist überzeugt, dass sich Unberechtigte Zutritt verschafft haben. Vielleicht, mutmaßt er, ist die eben gesichtete Gestalt dieser Übeltäter.

Warten hinter der Türe

W. schleicht zum Büro im Hochparterre und stellt fest: Am Schlüsselbrett fehlt der Schlüssel zur Leichenhalle. Und das nicht zum ersten Mal. Auf den Gängen in den Gewölben ist es ruhig. W. geht leise Richtung Halle, sieht Licht und entscheidet sich für den Rückzug ins Büro. Dort wartet er hinter der Türe, denn der ungebetene Gast wird den Schlüssel wohl wieder ans Brett hängen wollen.

Gegen 23 Uhr hört W. Schritte, das gibt er später zu Protokoll. Jemand betritt das Büro. Es kommt zur Rangelei zwischen W. und einem kleineren Mann mit Kinnbart. Plötzlich fällt ein Schuss, W. sackt zusammen, der Angreifer sucht das Weite. Schwer verletzt robbt der Angeschossene zum Telefon und wählt die 110. Die Kugel hat seinen Bauch durchbohrt. Er wird in die Klinik gebracht, notoperiert - und kommt durch.

Weniger Glück hat ein Brautpaar, auf das am Waldrand bei Lindelburg (Kreis Nürnberger Land) am Folgetag gefeuert wurde. Wie die Ermittlungen ergeben werden, geht der Doppelmord an der 18-Jährigen und ihrem 24-jährigen Partner auch auf das Konto des Täters vom Westfriedhof. Doch so weit ist es noch nicht. Während am Samstag, 6. Mai, in Nürnberg eine Großfahndung der Polizei nach dem Schützen läuft, ist dieser schon auf der Suche nach weiteren Opfern.

Am selben Tag sichtet ein Jäger am Waldrand bei Lindelburg einen hellblauen Mercedes. Er sieht auch einen Mann, der sich da zu schaffen macht, ein knallrotes Mofa aus dem Gebüsch holt und davonfährt. Der Waidmann nähert sich dem Pkw und entdeckt das Brautpaar, beide erschossen. Der Jäger fährt in den nächsten Ort und verständigt die Polizei. Der Doppelmord fällt in die Zuständigkeit der Kripo Schwabach.

Am 6. Mai 1972 sehen die Ermittler noch keinen Zusammenhang zwischen dem Vorfall im Krematorium und dem bei Lindelburg. "Es ist einem Kriminalbeamten aus Schwabach zu verdanken, dass eine Verbindung zwischen beiden Fällen hergestellt werden konnte", berichtet Bert Rauenbusch, Sprecher der Polizeipressestelle Nürnberg, der sich auf historische Fälle spezialisiert hat.

Der Tatort bei Lindelburg: In diesem Mercedes wurde der Doppelmord verübt. An der Wagentür hinterließ der Mörder seinen blutigen Fingerabdruck.

Der Tatort bei Lindelburg: In diesem Mercedes wurde der Doppelmord verübt. An der Wagentür hinterließ der Mörder seinen blutigen Fingerabdruck. © Foto: Marker

Dieser Beamte hatte die Idee, die an beiden Tatorten gefundenen und sichergestellten Patronenhülsen sowie Geschosse miteinander zu vergleichen. Und siehe da: Die ballistische Untersuchung bestätigt am Montag, 8. Mai, dass in beiden Fällen dieselbe Tatwaffe verwendet wurde, eine "Ceska Vzor" Kaliber 7,65 mm.

Der Täter hat seine Opfer am Waldrand kaltblütig erschossen und ihnen Schmuck und Geld geklaut. Was die Ermittler aber frösteln lässt, ist etwas ganz anderes. In späteren Vernehmungen wird der Beschuldigte berichten, dass er Blut aus den Wunden seiner Opfer gesaugt habe.

Auch in der Leichenhalle des Krematoriums machte er sich über eine tote Frau her und trank ihr Blut. Diese und weitere Taten werden dem Beschuldigten in der Presse bald den Titel "Vampir von Nürnberg" einbringen.

Sonderkommission mit 16 Beamten

Oberstaatsanwalt Hans Sachs, bekannt aus dem ARD-Fernsehquiz "Was bin ich?", richtet mit der Nürnberger und Schwabacher Kripo eine Sonderkommission ein, 16 Beamte sollen den Todesschützen finden. Emmeram Daucher, Chef der Mordkommission, leitet die Soko. Der Name Daucher war zu diesem Zeitpunkt vielen bereits ein Begriff. Jahrelang war der Ermittler dem sogenannten Mittagsmörder auf dem Fersen. Am 1. Juni 1965 verübte der Täter in einem Nürnberger Kaufhaus sein letztes Verbrechen, kurz darauf wurde er von Polizisten festgenommen.

Geht es jetzt also um einen Vampir? Daucher geht an die Öffentlichkeit. Der Fahndungsaufruf lautete: "Kleiner Mann mit Brille gesucht, der ein rotes Mofa fährt. Belohnung: 6000 DM." Kurz nachdem er die Meldung in den Nürnberger Nachrichten gelesen hat, greift Helmut K. zum Hörer und führt die Kripo auf die richtige Fährte. K.s Kollege in einer Speditionsfirma in der Dianastraße habe so ein Mofa, auch die Personenbeschreibung passe. Wenig später klicken die Handschellen bei Bela L., er gilt als dringend tatverdächtig.

Der Verdacht erhärtet sich, als die Ermittler blutverschmierte Kleidung in L.s Wohnung und die Ceska finden, die Tatwaffe, aus der die Schüsse abgefeuert wurden. Außerdem vergleichen Spezialisten des LKA in München einen sichergestellten Handabdruck vom Tatort in Lindelburg mit dem von Bela L. Das Ergebnis: Beide Abdrücke sind identisch.

Probleme bei der Verständigung

Die Vernehmungen mit dem damals 39-Jährigen verlaufen allerdings schleppend - Bela L. ist seit seiner frühen Kindheit gehörlos. Ein Gebärdendolmetscher muss die Verständigungsprobleme lösen helfen. Was in den weiteren Ermittlungen im Detail zutage tritt, ist für die Beamten nur schwer zu ertragen. Der kontaktarme Bela L. hat in den Jahren 1971 bis 1972 mindestens 35 Verbrechen und Vergehen verübt, die damals juristisch teils als einfache "Störung der Totenruhe" eingeordnet wurden.

Um an Leichen zu kommen, suchte er Friedhöfe in der ganzen Bundesrepublik auf, von Sylt über Flensburg, Köln und München bis nach Ingolstadt und Donauwörth. Vor allem aber in Nürnberg und der Region verging er sich an Toten. Mit seiner Festnahme geht in Nürnberg ein beispielloser Fall von Abartigkeit in der deutschen Kriminalgeschichte zu Ende.

Am Anfang aber steht jetzt die juristische Aufarbeitung. 1974 wird die Hauptverhandlung am Landgericht Nürnberg-Fürth eröffnet. Doch Bela L. ist nicht verhandlungsfähig, zu diesem Schluss kommen zwei Gutachter. Der Prozess wird ausgesetzt und erst zwei Jahre später fortgesetzt. Im Zentrum des Verfahrens steht weniger L.s Neigung zu Totenkult und Schwarzer Magie, als vielmehr der Doppelmord und der versuchte Mord im Krematorium.

"Hochkrimineller Vater"

Das Gericht unter dem Vorsitz von Egon Schiller ist davon überzeugt, dass L.s Kindheit durch die Gehörlosigkeit extrem belastet war. Er war auch "besonderen Erschwernissen" ausgesetzt, durch den brutalen und "hochkriminellen Vater" sowie eine überforderte Mutter. L.s Entwicklung weise schwere Defizite auf, so der Richter. Bela L.s Verteidiger spricht von dauernden Prügeln und anderen Grausamkeiten des Vaters. Vom 17. Lebensjahr an war der Sohn meist in Haft oder in Heil- und Pflegeeinrichtungen.

Doch als geisteskrank will das Schwurgericht den gehörlosen Gelegenheitsarbeiter nicht einstufen. Während des gesamten Tatgeschehens in Lindelburg etwa sei der Gehörlose Herr der Situation gewesen. Er habe planmäßig gehandelt und getötet, um eine andere Straftat - den Diebstahl - zu ermöglichen. Am 28. Juli 1976 fällt das Urteil: Zweimal lebenslange Haft wegen des Doppelmordes und noch einmal zehn Jahre wegen versuchten Mordes.

Doch Bela L. wird vorzeitig entlassen, im Jahre 2004 kommt er in Freiheit. Heute, als 86-Jähriger, lebt er anonym in Süddeutschland. Gerüchten zufolge soll L. Nürnberg sogar wieder zu seinem Lebensmittelpunkt gemacht haben.

Der erste Fall der Serie dreht sich um einen spektakulären Mord im Dampfnudelbäck.

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