Vermisste in Nürnberg: Wenn Menschen verschwinden

29.9.2016, 06:00 Uhr
Ihm wurde alles zu viel, also kaufte sich Johannes Roth ein Bayernticket und fuhr einfach weg (Symbolbild).

© Jens Büttner, dpa Ihm wurde alles zu viel, also kaufte sich Johannes Roth ein Bayernticket und fuhr einfach weg (Symbolbild).

Die gute Nachricht zuerst: Johannes Roth ist wieder daheim. Fünf Tage war der Vater von vier Kindern verschwunden - eine Kurzschlussreaktion des Mittfünfzigers. Für die Angehörigen begann damit eine Zeit der Ungewissheit.

Anfang der Woche steht Julia Roth (Namen der Betroffenen geändert) in der Redaktion. In den Händen hält sie einen Stoß Papiere. "Papa vermisst", steht da, darunter ein Foto von ihrem Gatten und eine Rufnummer. Der Stapel war noch viel dicker, Julia Roth klebte bereits einige Zettel mit Genehmigung der VAG in U-Bahn-Höfe und -Verteiler.

Am Donnerstag vor einer Woche macht sich Johannes Roth für die Arbeit fertig. Um 8.45 Uhr verlässt er die Wohnung an der Nürnberger Stadtgrenze. Sein Arbeitsplatz ist zwar nur wenige Meter von zu Hause entfernt. Doch kommt er da nie an. Seine Frau erfährt davon, als später ein Kollege anruft. "Der war wie vom Erdboden verschluckt", sagt sie, den Tränen nahe. Roths Tochter stellt online fest, dass in den Tagen nach dem Verschwinden immer wieder kleinere Beträge abgehoben wurden, von Geldautomaten in der Altstadt. Einmal wurde das Konto mit 23 Euro belastet, weil an einem Automaten mit Roths Karte eine Fahrkarte gelöst wurde. Wie sich später herausstellte, kaufte sich Johannes Roth selbst ein Bayernticket, fuhr mit dem Zug nach Augsburg und nach München.

Videomaterial gesichtet

Bei der Polizei ist Julia Roth auch gewesen. Doch suchen die Beamten nicht aktiv nach dem Vermissten. Warum? Der Nürnberger ist weder (psychisch) krank und braucht Medikamente, noch gibt es Anzeichen für eine Selbstmordabsicht. So hat es die Ehefrau den Beamten auch geschildert. Und dennoch fühlt sie sich von der Polizei nicht richtig behandelt: "Da wird ja jedem Goldfisch mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht."

Auf Anfrage sagt Polizeisprecher Michael Petzold: "Es steht jedem Erwachsenen frei, wann und wohin er gehen will." Für eine öffentliche Fahndung braucht die Polizei einen richterlichen Beschluss. Im Fall Roth fehle die rechtliche Grundlage. "Er wurde von uns zwar als vermisst registriert, aber nicht als akut eingestuft", sagt Petzold. Dazu beigetragen hat auch das Videomaterial, das die Banken, bei denen abgehoben wurde, der Polizei zur Sichtung überließen. Darauf war Roth deutlich zu erkennen.

Im vorigen Jahr wurden in Nürnberg rund 1400 Vermissten-Fälle aufgenommen. Zwei Drittel davon sind Kinder und Jugendliche, die von zu Hause ausbüxten. "Nach zwei bis drei Tagen kehren die meisten aber wieder zurück", so Petzold.

Ein Beamter gibt Julia Roth noch den Rat, privat eine Suche zu organisieren. Das hat sie auch gemacht. Kinder, Schwiegersöhne und Freunde gingen in der Stadt Streife. In der Nacht zum Dienstag lief der Ehemann den Suchenden tatsächlich in die Arme. Die Anforderungen im Job, so Julia Roth, seien immer größer geworden. Johannes Roth wollte ausbrechen, dem Weg in die Arbeit, den er seit Jahren geht, eine andere Richtung geben. Dann stieg er in den Linienbus.

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