Was Tucher so alles verbrauchte

20.7.2015, 20:24 Uhr
Was Tucher so alles verbrauchte

© Archivfoto: NN

„Konsum ist nicht erst ein Phänomen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Es gab bereits eine ältere Welt der Werbung, des Genusses und der menschlichen Verführung“ ist Prof. Wolfgang Wüst, Lehrstuhlinhaber für Bayerische und Fränkische Landesgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, überzeugt.

In dem von ihm herausgegebenen Buch „Regionale Konsumgeschichte. Vom Mittelalter bis zur Moderne“ versuchen verschiedene Fachautoren, diesen Irrtum der bisherige Forschung zu korrigieren. Namhafte Historikerinnen und Historiker beleuchten das regionale Konsumverhalten verschiedener Bevölkerungsschichten vom Mittelalter bis heute. Herausgekommen ist ein facettenreicher Streifzug durch die Geschichte — mit für den Laien überraschenden Erkenntnissen aus dem Alltagsleben gerade auch der Nürnberger.

Berauschender Verbrauch

Konsumrausch ist ja bekanntlich ein Begriff aus der modernen Welt der kommerziellen Bedürfnisbefriedigung. Nimmt man den Begriff wörtlich, dann passt er aber durchaus auch auf die Verbrauchsgewohnheiten der Menschen im späten Mittelalter. Damals waren nämlich zwei der am meisten genutzten, aktenkundigen Konsumgüter — Bier und Wein. Beide Getränke ersetzten in gewissem Rahmen das Trinkwasser, da Brunnen oft verunreinigt und daher gesundheitsschädlich waren.

Was Tucher so alles verbrauchte

Die Mengen, die damals von den Menschen konsumiert wurden, sind beachtlich. Im Hause von Anton Tucher in Nürnberg wurden im Jahr im Schnitt rund 3381 Liter Wein verbraucht — das macht pro Erwachsenem rund 1,3 Liter am Tag, schreibt Co-Autorin Marina Heller. Und da kommen die 5441 Liter Bier pro Jahr noch oben drauf.

Bei beiden „Grundnahrungsmitteln“, aber etwa auch beim textilen Konsumgut Kleidung lassen sich erstaunliche Parallelen zur heutigen Konsumwirtschaft ziehen. Damals wie heute gab und gibt es Regeln für die Herstellung, die den Konsumenten und sein Wohlbefinden schützen sollen — wie etwa das bereits 1482 in Kitzingen beschlossene Reinheitsgebot für Wein.

Und wie heute litten die Konsumenten auch in früheren Jahrhunderten unter Plagiaten — beispielsweise im historischen Gewürzhandel, bei dem Nürnberg von jeher eine herausragende Stellung einnahm. Safran etwa, damals ein exotisches Luxusgut, lockte wegen stark schwankender Preise und der weiten Transportwege immer wieder Fälscher an, die dem edlen Gewürz Zucker oder parfümierte Öle zusetzten — Fälle für die Lebensmittelaufsicht, die es schon damals in Nürnberg gab.

Frühe Globalisierung

Wie in unserer modernen Zeit war auch im Mittelalter die über den eigenen Bedarf hinausgehende Produktion von Gütern, die Vermarktung und der Vertrieb Voraussetzung, um überhaupt Konsumenten als Abnehmer bedienen zu können — auch global. Selbst ausgefeilte Marketingstrategien gab es, wie die sogenannten „Weinschreier“ oder „Weinrufer“, die in den Orten Kunden warben.

Was Tucher so alles verbrauchte

Nürnberg entwickelte sich dabei zum Zentrum des Weinhandels in Süddeutschland, der „Weinmarkt“ an der Pegnitz kündet noch heute von dieser besonderen Rolle. Hier wurden Absatzmengen und Preise der ganzen Region bestimmt. Der Handel lag dabei überwiegend in Händen professioneller Aufkäufer.

Konsum aber, obwohl noch in den Kinderschuhen, erfüllte schon in jener Zeit auch gesellschaftsprägende Funktionen, die über die reine Warenversorgung hinausgehen. Was heute das neueste Tablet oder die aktuellste Luxuskarosse erreichen soll, das schafften früher herausragende, oft ausländische Weinsorten am Tisch, Gold und Geschmeide am Körper oder erlesene Gewürze: Die Demonstration von Wohlstand, die Abgrenzung von niederen Ständen, das In-Sein, auch wenn es damals noch nicht so genannt wurde.

Es gab eine eigene Kleidergesetzgebung in Nürnberg wie auch andernorts, die im Wesentlichen eine Funktion hatte: Das Ständewesen am Leben zu erhalten und die modischen Ambitionen verschiedenartigster Gruppen in die Schranken zu weisen. Allerdings mussten sich die Dekrete und Verordnungen immer wieder der Mode und dem Zeitgeist anpassen.

War Frauen in der Ordnung von 1568 noch das Tragen von Schmuck im Wert von höchstens 100 Gulden erlaubt, so lag diese Grenze 1618 bereits bei 370 Gulden — teurer gewordene Fertigungen und wertvollere Materialien aus dem Ausland forderten von den Konsumwächtern Anpassungsbereitschaft.

Mit Luxusgütern wie feinen Gewürzen und erlesenen Stoffen betrieben vor allem die obersten Stände, der Adel, eine Art Luxuskonsum. Doch nach und nach reklamierte auch das Bürgertum das Recht für sich, eigene Bedürfnisse zu haben, je mehr die Kaufkraft anstieg. Aus den Bedürfnissen wurde echter Bedarf — der Massenkonsum wurde geboren, ohne den heute unsere Wirtschaft nicht mehr funktionieren würde.

Demokratisierung von Luxus

Im historischen Ablauf ziemlich sprunghaft nennt das Buch für dieses Phänomen die Nürnberger Foto-Quelle als Beleg in der Moderne. Das Wirtschaftswunder und der damit verbundene Massenkonsum begannen mit dem Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Nachdem die ersten Grundbedürfnisse gestillt waren, wuchs der Hunger auf Güter, die einen „angemessenen Lebensstandard“ signalisierten. Mit dazu zählen Experten den Fotoapparat — er war damals eng mit Urlaub verbunden, und den konnte sich in den 50ern und 60ern nur wenige leisten.

Gustav Schickedanz mit seinem Quelle-Versand und ab 1957 mit der Foto-Quelle hatte maßgeblichen Anteil daran, den Luxus „Fotografieren“ zu demokratisieren, indem er in seinen Katalogen und später auch stationär gute Qualität zu günstigen Preisen anbot. Heute gehört mit dem Smartphone Fotografieren zum Alltag — genauso wie gute Weine oder schicke Kleidung.

 

„Regionale Konsumgeschichte. Vom Mittelalter bis zur Moderne“, Herausgeber Wolfgang Wüst, WiKomm-Verlag, 29,80 Euro

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