Wenn das Leben voller verpasster Chancen ist

7.11.2014, 19:51 Uhr
Wenn das Leben voller verpasster Chancen ist

© Foto: Unger

Antonias Leben verlief die meiste Zeit alles andere als spektakulär. Aufgewachsen in den 1950er Jahren im streng katholischen Milieu einer fränkischen Kleinstadt, was ihre Weltsicht nachhaltig prägte, wurde sie bereits in sehr jungen Jahren in die traditionelle Rolle der Hausfrau und Mutter gedrängt. Heute sind die Kinder aus dem Haus, wie man so sagt, und Antonia lebt mit ihrem Ehemann, einem mittlerweile pensionierten Gymnasiallehrer, in Nürnberg. Dass ihre Biographie eine Reihe von verpassten Chancen aufweist, beginnt sie erst im Verlauf einer ernsten Krankheit zu ahnen. Mehr Klarheit erhofft sie sich von einer Reise in die eigene Vergangenheit.

Vor fünf Jahrzehnten hat Antonia ein einziges Mal gegen die Spießigkeit ihres Elternhauses rebelliert und ist ohne häuslichen Segen für zwei Jahre als Au-pair-Mädchen nach Paris gegangen. In diese große Stadt, in der ihr einst alle Wege in ein erfülltes Dasein offen schienen, kehrt sie zurück, um in Ruhe über ihre heutige Situation und über mögliche Veränderungen in der Zukunft nachzudenken.

Paris, das war etwas Besonderes in den 60er Jahren. Da lief doch „immer gleich ein Film in einem ab, wenn jemand Paris nur erwähnt hat“, heißt es im Roman, „wer ging damals schon ins Ausland, noch dazu als Frau und alleine...“ Doch seither haben sich nicht nur die Verhältnisse in Deutschland, sondern auch an der Seine gewaltig verändert. Die lebensfrohe Stadt der Liebe, die weltoffene Metropole der Künstler und kritischen Intellektuellen, an die sich Antonia zu erinnern meint, sie findet sie nicht mehr.

Und auch die Begegnungen mit früheren Vertrauten und Bekannten verlaufen enttäuschend. Ihre einst bewunderte französische Arbeitgeberin liegt auf dem Sterbebett. Deren Kinder, welche die junge Deutsche einst hütete, sind ihr in vieler Hinsicht fremd geworden. Lediglich Jean-Luc, in den Antonia in ihrer Pariser Zeit ein wenig verliebt war, entspricht noch weitgehend ihren romantischen Vorstellungen von „typisch französischer“ Lebensart.

Jean-Luc ist ein Freigeist, der das Scheitern seiner Mediziner-Karriere nicht besonders bedauert. Er hat ein höchst bescheidenes Auskommen als Straßenmusikant und Gelegenheitsarbeiter und wohnt in einer ehemaligen Dienstboten-Kammer unter dem Dach. Er ist für Antonia so aufregend und anziehend anders, so viel männlicher und großartiger als ihr auf kleinbürgerliche Sicherheit bedachter, vernünftiger, sparsamer, die Grünen wählender Ehemann. Da erwacht ein Traum vom späten Glück.

Irmi Kistenfeger-Haupt: Der Mann an der Seine, Wiesenburg Verlag, 162 Seiten, 16,50 Euro; Buchvorstellung am Mittwoch, 12. November, 19.30 Uhr im Zeitungs-Café, Abendeingang über Peter-Vischer-Straße

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