Zwischen Hoffnung, Angst und Zukunftssorgen

23.3.2017, 14:20 Uhr
Vor 400 begeisterten Anhängern warb der türkische AKP-Politiker Taner Yildiz (re.) kürzlich in Nürnberg für Erdogans Verfassungsreform – draußen demonstrierten 30 Gegner. Spiegelt dies die Verhältnisse in der Stadt wider?

© Foto: Roland Fengler Vor 400 begeisterten Anhängern warb der türkische AKP-Politiker Taner Yildiz (re.) kürzlich in Nürnberg für Erdogans Verfassungsreform – draußen demonstrierten 30 Gegner. Spiegelt dies die Verhältnisse in der Stadt wider?

Im Alevitischen Kulturzentrum wird es langsam voll am Donnerstagabend. Vor dem Gebäude im Stadtwesten steht noch ein kleines Grüppchen, um eine letzte Zigarette zu rauchen. In den nächsten Stunden wird hier kräftig diskutiert, werden Pläne geschmiedet und verworfen, Ideen zu Papier gebracht. Auch Murat Sentürk, Ali Demir und Fatma Sahin (Namen aus Schutzgründen von der Redaktion geändert) sind hier, sie gehören zur Koordinationsgruppe der Nürnberger Nein-Plattform.

Der Zusammenschluss aus Oppositionellen – darunter Kurden und Türken, Gewerkschaften und Vereine, Jugendorganisationen und Einzelpersonen – will laut seiner Deklaration "für die Demokratie, den Frieden und die Zukunft der Türkei" eintreten und ruft deshalb auf, beim Referendum im April mit Nein, also gegen die Verfassungsänderung, zu stimmen.

Nun soll die weitere Öffentlichkeitsarbeit der Plattform geplant werden, es geht um den Text für Flyer und Broschüren, auch beim geplanten Internetauftritt ist noch viel zu tun. Insgesamt gibt es in Nürnberg noch drei weitere Plattformen: zwei der sozialdemokratischen türkischen Oppositionspartei CHP und eine des Vereins der Atatürk-Anhänger. Die Gruppen stehen in losem Kontakt, arbeiten aber nicht direkt zusammen. "Wir sind die größte und bunteste", sagt Fatma Sahin.

Aufklärung und Information

Eines der Ziele der Nürnberger Nein-Plattform ist die Information: "Wir wollen die Menschen aufklären, was hinter der Verfassungsänderung steckt, denn viele wissen das gar nicht", erklärt Murat Sentürk. Recep Tayyip Erdogan, der amtierende Präsident der Türkei, wolle damit seine Alleinherrschaft legitimieren. "Das Präsidialsystem funktioniert schon, Erdogan hat bereits sehr viel Macht." Das Referendum diene nur noch der formellen Absegnung, dass er dem Ausland gegenüber sagen könne: "Das Volk wollte es so."

Außerdem betonen die drei, dass bei einem Ja zur Verfassungsänderung keineswegs die Demokratie in der Türkei gefährdet sei. Denn: Auch aktuell gibt es dort keine. "Das bestehende System war schon vor dem Militärputsch im Juli nicht demokratisch. Und jetzt soll es noch undemokratischer werden", sagt Sentürk.

Angst macht den Nein-Befürwortern die zunehmende Polarisierung – auch hier in Deutschland. Wer offen gegen das Präsidialsystem eintrete, werde von Erdogan und seinen Anhängern sofort als Terrorist oder PKK-Sympathisant verunglimpft. Das sei auch vorher schon so gewesen, jetzt erreiche es einen neuen Höhepunkt.

Bedrohte Schauspieler, gekündigte Akademiker

"Ein Facebook-Post genügt schon, um Schwierigkeiten mit der Türkei zu bekommen", sagt Sahin. Sie erzählt von Bekannten, die in dem sozialen Netzwerk "das Falsche" – etwa, dass sie für Nein stimmen wollen – gepostet haben und im Türkeiurlaub verhaftet wurden, von bedrohten Schauspielern und Akademikern, denen durch die Kündigung ihres Jobs die Existenzgrundlage entzogen wurde. "Und das alles nur, weil sie gegen Erdogan und seine Ein-Mann-Regierung sind."

Der Hass und die Bedrohungen zwischen den Lagern, die Warnung, nicht bei mutmaßlichen Fethullah-Gülen-Anhängern einzukaufen, wecken in Deutschland böse Erinnerungen. Und warum das alles? "Erdogan muss unbedingt der starke Mann werden in der Türkei", sagt Ali Demir. "Nur wenn das klappt und er an der Macht bleibt, muss er über seine Schandtaten und Korruptheit keine Rechenschaft ablegen."

Und Deutschland kann das Zünglein an der Waage sein, glaubt Sentürk. "Es gibt hier so viele türkische Wähler, dass sie die Wahl nicht nur beeinflussen, sondern sogar entscheiden können." Kein Wunder also, dass die türkischen Politiker diese Bühne für ihren Wahlkampf nicht missen mögen. Die Nürnberger Nein-Plattform ist jedoch strikt gegen diese Auftritte in Deutschland.

Während drinnen der türkische Ex-Minister Taner Yildiz für Erdogans Verfassungsreform warb, demonstrierten draußen Gegner für ein Nein („Hayir“) beim Referendum.

Während drinnen der türkische Ex-Minister Taner Yildiz für Erdogans Verfassungsreform warb, demonstrierten draußen Gegner für ein Nein („Hayir“) beim Referendum. © Roland Fengler

Die Spaltung werde so bis hierher getragen, wenn Erdogans Einpeitscher einfach kommen und Reden halten dürften, sagt Sentürk. "Die türkische Regierung hat zu viel Einfluss." Von der Bundesregierung fordern die drei ein klares Signal gegen derartige Auftritte, anstatt wie in Gaggenau geschehen Sicherheits- oder Parkplatzprobleme vorzuschieben.

*Szenenwechsel. In der Gostenhofer Hauptstraße reihen sich Dönerrestaurants, Bäckereien und Gemüseläden mit türkischen Inhabern aneinander. Auch viele der Kunden dort haben türkische Wurzeln. Mit ihnen ins Gespräch zu kommen, ist aber schwer. Viele wollen mit der Presse nicht reden, schützen Zeitprobleme vor oder verweisen auf den Chef, der gerade nicht da sei. Wann der denn wiederkomme? Als Antwort gibt es meist nur Schulterzucken oder vage Zeitangaben.

Mehmet Yildirim ist eine Ausnahme. Er redet gerne mit der Zeitung. "Natürlich gehe ich wählen, ich werde mit Ja stimmen", sagt der Besitzer eines Schnellimbisses. "Ich liebe Erdogan." Der aktuelle Präsident sei gut für die Türkei, glaubt Yildirim. Außerdem müsse die türkische Verfassung dringend geändert werden, sie stamme schließlich noch aus der Zeit des Militärputsches in den 1980er Jahren.

"Wie kann Erdogan Nazi-Deutschland sagen?"

Zwei andere Geschäftsmänner in der Gostenhofer Hauptstraße wollen ihre Namen nicht nennen. Beide sind gegen Erdogans geplantes Präsidialsystem. Der eine sagt, dass es auch unter seinen Kunden und im Freundeskreis viele gibt, die für Ja stimmen wollen. "Es geht ziemlich an die Nerven, mit denen ständig diskutieren zu müssen, aber ich kann es mir nicht leisten, Kundschaft zu verlieren." Die Niederlande hätten das gut gemacht mit dem Verbot der Wahlkampfauftritte, das würde er sich auch von der deutschen Regierung wünschen. "Wie kann Erdogan Nazi-Deutschland sagen? Das begreife ich nicht."

Der andere Geschäftsmann macht sich große Sorgen um die Zukunft. Mit seinen Nachbarn von schräg gegenüber redet er seit zwei Wochen nichts mehr. "Die machen Propaganda für Erdogan." In seinem Laden werde viel über das Referendum diskutiert. "Ich kenne Landsleute, die jetzt doch für Ja stimmen wollen, weil sie sagen, dass Europa gegen die Türkei ist." Seine Heimat will er erst wieder besuchen, "wenn Erdogan weg ist". Seit 40 Jahren lebe er in Deutschland, habe sich einen Betrieb, ein Leben aufgebaut. "Aber mit zwei Worten kann er hier für uns alles kaputt machen."

*Mustafa Akbaba lebt und arbeitet als Journalist in Nürnberg. Einmal im Monat gibt er die kostenlose Zeitung "Bayern aktüel" heraus, mit einer Auflage von 30 000 Exemplaren.

"Ich finde es beschämend, dass ein Staatsoberhaupt wie Erdogan einfach Völker aus europäischen Ländern als Neonazis bezeichnet", sagt Akbaba. Er erzählt, dass es gerade die Deutschen sind, die an Infoständen und bei Aktionen der Nein-Befürworter stehen bleiben und sagen: "Gott sei Dank gibt es auch Menschen aus der Türkei, die die Demokratie beschützen wollen."

Angst vor Auseinandersetzungen

Akbaba selbst ist auch gegen die von Erdogan angestrebte Verfassungsänderung, weil "ich an Demokratie und Meinungsfreiheit glaube". Deshalb sollte man den türkischen Politikern auch erlauben, in Deutschland aufzutreten – wenn sie sachlich und ohne Beschimpfungen das geplante Präsidialsystem vorstellen.

Der Journalist hat jedoch Angst, dass es in den nächsten Wochen noch schlimme Auseinandersetzungen geben könnte, hier wie auch in der Türkei. "Was die Leute in den sozialen Netzwerken posten – Ja- genauso wie Nein-Befürworter – ist der Wahnsinn!" Das Volk, schätzt Akbaba, werde sich knapp für Nein entscheiden. "Ich denke, dass ein Ein-Mann-System nicht funktionieren kann."

*Egal ob in der Familie oder im Job: Ein Alleinentscheider ist nie gut, sagt auch Ilhan Baba. "Dass ist Demokratie, dass man andere um ihre Meinung fragt und Entscheidungen gemeinsam trifft." Erdogan hingegen regiert die Türkei seit 15 Jahren schon allein. Baba lebt seit mehr als 26 Jahren in Deutschland, er ist Journalist, führt eine Presse- und Werbeagentur und hat das erste deutsch-türkische Radio in Bayern gegründet.

Außerdem hat er im Stadtsüden auch noch ein Reisebüro. Immer weniger Menschen wollen in der Türkei Urlaub machen, sagt Baba. Das merke er auch in seinem Geschäft. "Der Tourismus dort ist am Boden." Überhaupt stehe das Land derzeit kritisch da.

"Erdogan wollte den Terror besiegen, die Industrie und den Tourismus stärken, einfach das ganze Land besser machen." Doch der Export habe sich drastisch verringert, die Türkei sei nicht sicher, die Touristen blieben aus. Anstatt sich jedoch um die eigenen Probleme zu kümmern, suche der Präsident nun Ärger mit Europa. Dass er den Wahlkampf hierher holt, bringt nach Babas Ansicht nur Probleme.

"Manche wollen nun aus Trotz für Ja stimmen"

"Im Türkischen gibt es den Spruch: ,Kauf dir kein Haus, kauf dir Nachbarn‘." Denn ohne diese gebe es weder Kontakt noch Hilfe in Notfällen. Im übertragen Sinne habe die Türkei auch in Deutschland keinen Nachbarn mehr, sondern die Freundschaft ohne Not zerstört, sagt Baba.

Und obwohl die türkischen Politiker ihre Kinder zum Studium hierher schickten, wetterten sie gegen Europa. "Das ist doch ein Widerspruch." Genauso widersprüchlich sei, dass sie Deutschland vorwerfen, die Meinungsfreiheit zu unterdrücken. "Dabei werden in der Türkei Journalisten ins Gefängnis gesteckt und die freie Meinungsäußerung mit Füßen getreten."

Auch zu den umstrittenen Wahlkampfauftritten hat Baba eine klare Meinung: Es gebe genügend Medien, Zeitungen und Radio, um die in Deutschland lebenden Türken über die geplante Verfassungsänderung zu informieren. Die Kampagnen von Erdogans Anhängern hierzulande seien unnötig. "In die Innenpolitik eines anderen Staates sollte sich kein Land einmischen."

Aus Gesprächen weiß er, dass die Menschen – egal ob sie für Ja oder Nein sind – ihre Wahl oft gar nicht begründen können. Beide Seiten seien zu uninformiert. "Die Leute", sagt der Journalist Ilhan Baba, "lesen heute einfach zu wenig."

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