Psychiatrie-Patient noch flüchtig: Ärzte im Dilemma

27.1.2018, 13:07 Uhr

In den sozialen Netzwerken breiteten sich auch im Landkreis Fürth Donnerstag und Freitag Gerüchte wie ein Lauffeuer aus: Der flüchtige Psychiatrie-Patient Reinhard Peter J. sollte in der Nähe zweier Kindergärten aufgetaucht sein. Auch von größeren Polizeieinsätzen war die Rede. Über Facebook und WhatsApp machte die Nachricht die Runde. Rathaus-Verantwortliche fragten bei der Polizeiinspektion in Zirndorf nach - von dort kam aber sofort Entwarnung.

In Cadolzburg setzte die Panik-Spirale des Internets noch einen drauf. Ab 21 Uhr suchte am Donnerstagabend angeblich eine Hundertschaft der Polizei in der Marktgemeinde nach dem Flüchtigen. Nichts davon stimmt, wie Oberstaatsanwältin Anita Traud, Sprecherin der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth, betont. Es werde aber allen Hinweisen nachgegangen.

Auch Fernsehberichte schüren die Hysterie. In einem RTL-Beitrag war sogar die Rede davon, dass "eine dunkle Wolke über Ansbach" schwebe. Bei Ermittlern gehen Anrufe von Schulen und Elternbeiräten bis aus Berlin ein, ob man die Mütter und Väter über Vorsichtsmaßnahmen informieren solle.

Die Ärzte in der Forensik für psychisch kranke Straftäter des Ansbacher Bezirkskrankenhauses dürfen im Moment keine Auskünfte geben. Erfahrene Psychologen bekräftigen im Gespräch mit unserer Redaktion aber, es gehe auch um die grundsätzliche Frage, wie lange einem psychisch kranken Straftäter die Freiheit entzogen werden darf und wie Justiz und Medizin die Bürger davor schützen können, dass Sexualtäter erneut anderen Menschen Gewalt antun.

Kurz vor der Entlassung

Der 47-jährige Reinhard Peter J. stand nach 25 Jahren hinter Gittern kurz vor der Entlassung. Er hatte zuletzt mehrfach Ausgang erhalten, um sich langsam wieder an die ersten Schritte zurück in die Freiheit zu gewöhnen. Er war stets pünktlich zurückgekehrt. Ärzte und die Staatsanwaltschaft, die zur Frage von Ausgängen immer herangezogen werden muss, hielten die Freigänge einvernehmlich für verantwortbar, berichtet die Fränkische Landeszeitung.

Der Mann ist, salopp formuliert, "chemisch kastriert". Das heißt, er bekommt Medikamente, die jeden aggressiven Sexualdrang unterdrücken. Üblicherweise werden dafür Depotspritzen verwendet, die in der Regel drei Monate anhalten. J. spricht auf diese Medikation und auch auf Psychotherapie und Arbeit in der Gartengruppe offenbar gut an.

Zum Zeitpunkt seines Ausgangs sei von ihm akut keine Gefahr ausgegangen, betont Dr. Ariane Peine, Sprecherin des Bezirkskrankenhauses. Noch mindestens vier Wochen bleibe das auch so, sagen Experten; danach lässt die Wirkung der Medikamente nach und J. wird gefährlich. Hinzu kommt nun allerdings, dass niemand abschätzen kann, wie er auf die Meldungen in den sozialen Medien und die Drohungen gegen ihn reagiert.

Der heute 47-jährige, 1,60 Meter große, 100 Kilo schwere Mann hat mehr Jahre seines Lebens hinter Gittern zugebracht als in Freiheit. 1992 hatte ihn das Jugendschöffengericht Nürnberg zu einer Jugendstrafe von sieben Jahren verurteilt. Er war zur Tatzeit Heranwachsender. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wurde damals angeordnet. Zu Beginn 2018 waren daraus 25 Jahre und sechs Monate geworden.

Seit dem Fall Gustl Mollath gelten in Deutschland so viele Jahre in einer psychiatrischen Klinik für psychisch kranke Straftäter als äußerst problematisch. Am 5. September 2013 gab das Bundesverfassungsgericht der Verfassungsbeschwerde Mollaths statt. Dessen langer Aufenthalt in der geschlossenen Psychiatrie nach einer relativ kurzen Haftstrafe verletze das Grundrecht auf Freiheit der Person, so die Entscheidung.

Resozialisierung immer das Ziel

Das Urteil hatte Auswirkungen auf die juristischen Vorgaben, die die bayerische Staatsregierung seitdem den forensischen Kliniken macht. Zum einen muss während der Therapie die Sicherheit der Bevölkerung gewährleistet sein, weshalb auch die Ansbacher Forensik das Sicherheitsniveau eines modernen Gefängnisses hat. Zum anderen ist das Ziel jeder Behandlung die Resozialisierung.

Im Fall J. seien sich das behandelnde Klinikteam und die Staatsanwaltschaft einig gewesen, dass Lockerungen und die Vorbereitung auf die Entlassung verantwortbar sind. Lockerungen seien ein fester Teil des Klinikalltags, erläutert Sprecherin Peine. Zunächst gebe es Ausgänge unter Begleitung von Klinikpersonal. Danach seien kurze Ausgänge alleine möglich, deren Dauer sich langsam steigere, bis hin zu Übernachtungen im familiären Umfeld. Vor dem Gang durch die Kliniktore müssten alle Stufen ohne Probleme durchlaufen worden sein.

Die Polizei tue momentan alles, was in solchen Fällen möglich und üblich sei, versichert ein Sprecher des mittelfränkischen Präsidiums. Dazu gehöre neben der Fahndung auch das Überprüfen von möglichen Anlaufstellen wie Angehörigen oder Freunden durch die Kriminalpolizei. Bisher hätten sich nirgends Anhaltspunkte ergeben. Die Zitterpartie geht weiter.

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