Rechtswidrige Zwangseinweisung: Strafanzeige gegen Seehofer

5.11.2015, 13:47 Uhr
Rechtswidrige Zwangseinweisung: Strafanzeige gegen Seehofer

© Archivfoto: Friedrich Stark

"Vorsicht mit Eingaben beim bayerischen Ministerpräsidenten – es besteht unmittelbare Unterbringungsgefahr!" Auf diesen provokanten Nenner bringt der bekannte Strafverteidiger Gerhard Strate den Fall der Claudia M. Vier Tage lang war sie wegen eines Mietstreits rechtswidrig in der geschlossenen Abteilung des Inn-Salzach-Klinikums in Wasserburg untergebracht.

Und das kam so: Claudia M. leidet nach einer chronischen Neuroborreliose durch Zeckenbiss an Depressionen und ist erwerbsunfähig; die Krankheit hat sie "aus der Bahn geworfen", sagt sie. Mit ihrer 72-jährigen Mutter lebte sie damals in einem Haus im Landkreis Rosenheim. Sie hatte Mietmängel beklagt und Zahlungen zurückgehalten. Doch die Gerichte gaben dem Vermieter in zwei Instanzen recht. Eine Gerichtsvollzieherin kündigte die Zwangsräumung für einen Juli-Montag um 8.30 Uhr an.

"Ein Unglück wird passieren"

In zwei Fax-Schreiben wandte sich Claudia M. hilfesuchend an den Ministerpräsidenten Horst Seehofer. Darin hieß es: "Meine 72-jährige kranke Mutter und ich (schwerbehindert mit voller Erwerbsunfähigkeitsrente) werden diesen Tag nicht überleben. Wir haben an Eides statt versichert, dass wir spätestens im Oktober ausziehen werden. Auch das wurde ignoriert!!! Unsere Existenz wurde ruiniert, was haben wir noch zu verlieren? Am 29. Juli um 8.30 Uhr wird ein Unglück passieren!!!"

Die bayerische Staatskanzlei leitete die Mitteilung aus Fürsorge für die beteiligten Personen an das Lagezentrum der Polizei im Innenministerium weiter, so Rainer Hutka, Sprecher der Staatskanzlei, auf Anfrage unserer Redaktion. Die Frage sei in solchen Fällen, ob man die Informationen ernst nehme. Tue man das nicht, und es geschehe tatsächlich ein Unglück, das zu verhindern gewesen wäre, müsste sich die Staatskanzlei schwere Vorwürfe gefallen lassen.

Vom Ministerium ging die Information an die zuständigen Behörden. Hutka versichert, dass die Staatskanzlei weder auf das Lagezentrum noch auf die Ämter oder Ärzte vor Ort irgendeinen Einfluss genommen habe. Ob die Tatsache, dass der Hinweis von "ganz oben" kam, die Behörden vor Ort zu eiligem oder voreiligem Handeln verleitet haben könnte, muss offenbleiben.

Jedenfalls schaltete das Landratsamt Rosenheim sofort einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ein, der mit Claudia M. sieben Jahre zuvor schon einmal in einem Betreuungsverfahren befasst gewesen war. In einem Schnellgutachten vom Vormittag des 26. Juli erkennt er im letzten Satz des Schreibens an Seehofer eine "konkrete Suizidandrohung". Aus psychiatrischer Sicht seien somit die Voraussetzungen für eine Unterbringung unter Anwendung von Gewalt gegeben, "da die Betroffene an einer psychischen Krankheit leidet".

Um 10.58 Uhr begründet eine Rosenheimer Amtsrichterin ihren Beschluss zur vorläufigen Unterbringung in der geschlossenen Psychiatrie bis längstens 6. September damit, Claudia M. habe "zurzeit keine ausreichende Krankheitseinsicht, sie ist zu keiner freien Willensbildung in der Lage".

Weder der Facharzt noch die Richterin haben mit Claudia M. auch nur ein Wort gesprochen, geschweige denn sie persönlich angehört. Anwalt Strate, bundesweit bekanntgeworden als Verteidiger Gustl Mollaths, kommentiert dies so: Das bayerische Unterbringungsgesetz verlangt ein ärztliches Gutachten, "welches auf den gegenwärtigen Gesundheitszustand abstellt und auf einer höchstens 14 Tage zurückliegenden persönlichen Untersuchung beruht". Zudem existiert ein Attest eines anderen Arztes, das M. bescheinigt, sie könne sich von Suizidgefährdung distanzieren.

Klinikchef entschuldigt sich

Um 12 Uhr nahmen eine Mitarbeiterin des Landratsamtes und zwei Polizeibeamte Claudia M. in sofortigen Gewahrsam. Eine Stunde später saß sie in der Psychiatrie - wiederum, ohne dem Gericht vorgeführt worden zu sein. Nach vier Tagen bedrängt eine Ärztin die Patientin, schriftlich zu erklären, dass sie freiwillig hier sei. Sie weigert sich. Noch am selben Tag wird ihr eröffnet, sie könne gehen. Der Klinikchef entschuldigt sich bei ihr. Das Landgericht Traunstein urteilt, der Unterbringungsbeschluss sei eindeutig rechtswidrig gewesen.

Rund 200.000 Bundesbürger werden Jahr für Jahr gegen ihren Willen in die Psychiatrie eingewiesen. Anwalt Strate glaubt, unter ihnen befänden sich "viele Mollaths", die vorschnell ihrer Freiheit beraubt worden seien.

Dass die aktuelle Strafanzeige gegen Seehofer irgendeinen Sinn macht, glaubt wohl niemand. Claudia M. stellt sie dennoch. Sie fühlt sich traumatisiert: "Vier Tage in der Psychiatrie - genug, ein Leben zu zerstören."

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