„Das Fleisch liegt auf sechs Uhr vor dem Blaukraut“

16.10.2016, 13:27 Uhr
„Das Fleisch liegt auf sechs Uhr vor dem Blaukraut“

© Foto: Jürgen Leykamm

Dabei fühlen die Gäste sich zunächst an die Faschingszeit erinnert. In einer kleinen Polonaise marschiert erst die eine, dann die andere Kleingruppe in den völlig abgedunkelten Raum. Vorneweg die Pädagoginnen, die sicher ans Ziel gelangen lassen. Es geht durch eine Vorhangschleuse, damit auch ja kein Blick auf die räumlichen Gegebenheiten geworfen werden kann. Gibt es da Stufen? Kann man sich den Kopf irgendwo stoßen? Doch das Team gibt in beiden Fällen Entwarnung.

Nur was auf der Speisekarte steht, weiß natürlich keiner der Teilnehmer. Es dauert etwas, bis sich alle orientiert haben. Wie ist die Tischform, wo liegen eigentlich Besteck und Serviette? Denn die, so die Befürchtung, wird man wohl gleich intensiv benutzen müssen.

Aber „bisher ist noch nichts Schlimmes passiert“, entkräftet Jan van Geldern die Ängste. Der Fachdienst für Taubblinde ist der Initiator der Aktion, bei der auch die Chefin der Einrichtung, Heike Klier, eine Premiere feiert. Als Serviererin kennt sie solche Szenarios, nun darf sie mal selbst im Dunkeln speisen.

Und es ist wirklich stockfinster. Leuchtende Uhren und Smartphones sind in die Hosentaschen verbannt. Kein noch so kleiner Spalt, aus dem irgendein Lichtfunken dringt. Die Augen schließen sich, öffnen sich wieder – es bleibt pechschwarz. Viele „sehen“ kleine Blitze, das Ergebnis verzweifelter Anstrengungen des Sehorgans.

Finger ins Glas

Und das alles in der „Woche des Sehens“, die Regens Wagner als Anlass für die Veranstaltung nimmt (regelmäßig gibt es hier auch das „Café im Dunkeln“). Fast 40 Bewohner der Einrichtung für mehrfach behinderte Hörgeschädigte leiden an massiver Sehbehinderung. Wie das ist, dürfen nun die Gäste nachempfinden. Und sich freuen, dass die Getränke allesamt mit Schraubverschluss sind. Beim Einschenken einfach den Finger ins Glas halten – das verhindert das Überlaufen. So ein Tipp, der sich auch gleich bewährt. Die hohen Herren der Kommunalpolitik aber haben vorgesorgt. Hilpoltsteins dritter Bürgermeister Josef Lerzer ist mit weißen Hemd erschienen, „das lässt sich gut kochen“. Und Thalmässings Rathauschef Georg Küttinger legt vor dem Essen die Krawatte ab, um nachher mit ihr etwaige Flecken auf dem Hemd kaschieren zu können. Gefahr droht schon bei der Suppe, es empfiehlt sich den Kopf etwas zum Teller zu beugen. Das Erraten aber fällt nicht schwer, zu eindeutig ist der Kürbisgeschmack.

Serviert wird übrigens auch im Dunkeln, doch das Team kennt den Raum auch im Hellen und hat sich Laufstrategien zurecht gelegt. Bei den Gästen ist Handkontakt Trumpf. Sie selbst entwickeln eine rechte Redseligkeit. Bedingt durch das Fehlen visueller Reize und weil sich Dunkelheit bei gleichzeitiger Stille doch recht gruselig anfühlt. Auch der Raum wirkt „unendlich weit“, so Klier, weil man eben nicht sieht, wie groß er ist. Auch auf den Tischschmuck gilt es aufzupassen, den man nur betasten kann.

Dann steigert sich der Schwierigkeitsgrad, das Hauptgericht stellt vor Herausforderungen. Doch Klier gibt Tipps: „Das Fleisch liegt auf sechs Uhr“, so ist es zumindest üblich. Und das Essen immer in die Tellermitte schieben. Geschmacklich ist es teilweise knifflig. Das Blaukraut ist leicht als solches ausfindig zu machen, die Ente auch noch so gerade. Bei den Maisplätzchen wird es dann schon schwieriger. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele die Speisen nicht erkennen, wenn sie sie nicht sehen“, erklärt man seitens des servierenden Pädagogikteams.

Genießerische Entspannung

Dass Sehbehinderte während des Essens in der Regel nicht gestört werden wollen, kann jeder Gast nun sehr gut nachvollziehen. Immer mehr wandelt sich bei so manchem die anfängliche Beklommenheit in eine genießerische Entspannung, die ihren Höhepunkt beim Verzehr des Apfel-Tiramisus als Nachspeise findet. Am Ende dürfen die Teilnehmer die Gänge, die sie gerade verspeist haben, auch sehen. Nachdem sie sich wieder durch die Schleuse bemüht haben. Das Geheimnis des Raumes hinter ihnen aber bleibt „im Dunkeln“.

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