Ein Kind ist mehr als die Summe seiner Noten

22.7.2016, 17:48 Uhr
Ein Kind ist mehr als die Summe seiner Noten

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Ein Kind ist mehr als die Summe seiner Noten

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Frau Schweinzer, nächsten Freitag gibt’s Zeugnisse. Haben Sie schon Bammel wegen der vielen Anrufe, die Ihnen da eventuell ins Haus stehen?

Elfriede Schweinzer: Erfahrungsgemäß bleibt es nach den Jahreszeugnissen eher ruhig bei uns. Anmeldungen wegen Schulproblemen gehen verstärkt zum Zwischenzeugnis ein. Aber selbst das ist später Aktionismus. Denn solche Probleme zeigen sich bei genauem Hinsehen schon viel früher.

 

Klingeln eher die Eltern oder die Schüler bei Ihnen durch?

Schweinzer: Überwiegend Eltern. Kinder und Jugendliche melden sich meist nur bei absoluten Krisen – wenn sie Angst haben nach Hause zu gehen, weil sie wegen schlechter Noten bestraft oder geschlagen werden. Es kommt durchaus vor, dass Schüler vor der Türe unserer Beratungsstelle stehen.

 

Jugendliche oder auch Grundschüler?

Schweinzer: Unsere Beratungsschwerpunkte betreffen Kinder von sechs bis neun Jahren und Jugendliche von 15 bis 18. In der Regel haben Jungs mehr Probleme in der Schule als Mädchen. Das liegt daran, dass Buben anders lernen — sie sind eher grobmotorisch aktiv. Darauf ist die Schule aber nicht ausgerichtet. Darum werden Jungs in vielen Bereichen abgehängt.

 

Das ist e i n Grund für schlechte Noten. Aber sicher nicht der einzige?

Schweinzer: Was wir oft sehen, ist eine Über- oder Unterforderung des Kindes. Dann fragen wir: Ist das überhaupt der richtige Schulzweig? Manchmal liegt den Schwierigkeiten eine Lese-Rechtschreibschwäche zugrunde. Oft hat ein Schüler den Kopf auch voll mit außerschulischen Problemen – Scheidung der Eltern, ein Todesfall, Mobbing. Kinder sind ja keine Lernroboter!

 

Was ist mit Computer und Handy?

Schweinzer: Mir ist klar, dass es da häufig Meinungsverschiedenheiten mit den Eltern gibt. Aber das lässt sich meistens schon über gemeinsam getroffene Vereinbarungen regeln. Wichtig werden Computer und Handy vor allem in einem Alter, wo die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe Vorrang vor dem schulischen Erfolg hat. Denn die Jugendlichen sind via Handy und PC-Spiele miteinander vernetzt.

 

Ist ja eigentlich nichts Schlimmes.

Schweinzer: Natürlich nicht! Und eine erfolgreich bewältigte Schullaufbahn ist noch lange kein Garant für ein glückliches Leben. Da braucht es ganz andere Fähigkeiten, die nicht benotet werden können. Wie will man ein gelungenes Leben auch bewerten?

 

Wozu sind Noten dann gut?

Schweinzer: Ich tue mich ein bisschen schwer mit der Frage und möchte sie so beantworten: Wir erleben ein sich veränderndes Schulsystem. Es gibt mittlerweile Zwischenbewertungen zum Leistungsstand, in denen sämtliche Noten genauestens aufgelistet werden. Die Lehrer sind offen und bereit, mit den Eltern zu besprechen, wo und warum die Leistungen ihres Kindes haken.

Mittlerweile wurden auch sehr gute Möglichkeiten etabliert, um Schüler individuell zu unterstützen: Beratungslehrer, Schulpsychologen, Schulsozialarbeiter, Erziehungsberatung und, und, und.

 

Aber Sie müssen zugeben, dass unsere Gesellschaft nach wie vor einem starken Leistungsdenken unterliegt.

Schweinzer: Da tut sich ebenfalls etwas. Viele setzen heute lieber auf eine gesunde Work-Life-Balance als auf Karriere. Und sie finden Arbeitgeber, die einen Azubi mit mittelprächtigen Noten, der aber pünktlich, höflich und zuverlässig ist, jedem Zweierkandidaten vorziehen — sofern der dieses Auftreten eben nicht zu bieten hat. Darum wird auch jemand mit einer Lese-Rechtschreibschwäche seinen Weg machen. Bei dem sind dann eben andere Fertigkeiten ausgeprägt. Dazu führe ich unseren Klienten übrigens öfter mal berühmte Persönlichkeiten vor Augen, die das untermauern. Einstein zum Beispiel.

 

Oder Daniel Pennac, ein französischer Autor. Der reaktiviert in seinem autobiografisch gefärbten Buch „Schulkummer“ die Ängste und Nöte, die ihn als „Schulversager“ umtrieben. Inzwischen ist er ein erfolgreicher Schriftsteller, doch das Thema lässt ihn offenbar nicht los. Kann Schule zum Lebenstrauma werden?

Schweinzer: Ja, sie kann die Biografie stark prägen – abhängig davon, wie Mütter und Väter damit umgehen. In manchen Familien geht es selbst bei jeder Mahlzeit nur noch um Schule, Schule, Schule. Damit ist man auf dem besten Weg, das Selbstbild eines Kindes oder Jugendlichen gründlich zu stören. Trifft das dauerhaft zu, dann ist dieser Mensch zeitlebens auf ein Versager-Ich gepolt. Stattdessen sollte man Stärken hervorheben: Kreativität, soziale Fähigkeiten oder handwerkliches Können – also Dinge, die sich mit Noten nicht gut abbilden lassen. Hat er das verinnerlicht, findet ein Mensch auch selbstbewusst seinen Platz in der Gesellschaft...

 

Die Gleichung „schlechte Noten = schlechte Lebenschancen“ geht also nicht unbedingt auf. Warum kalkulieren dann so viele Eltern mit ihr?

Schweinzer: Wie gesagt, diese Rechnung geht dann auf, wenn Schule und ein damit verbundener Leistungsdruck sich auf das Selbstbild und die Persönlichkeitsentwicklung negativ auswirken. Eltern kalkulieren damit, weil sie verunsichert sind oder Angst haben, dass ihre Kinder wichtige Lebenschancen verpassen.

 

Was also raten Sie Müttern und Vätern, die die Felle Ihres Kindes davonschwimmen sehen?

Schweinzer: Unsere Aufgabe ist es, beruhigend auf sie einzuwirken und ihnen Mut zu machen. Dann können sie sich auch aktiv gegen die herrschende Bildungshysterie abgrenzen und ihr Kind nicht nur als Summe seiner Noten sehen. Gut ist es, sich im Zweifelsfall frühzeitig beraten zu lassen und bei einem Gespräch zu vergewissern, wo das eigene Kind gerade steht.

Aber die wichtigste Verhaltensregel für kommenden Freitag ist die: Ruhig bleiben!

 

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