Wenn der Mythos eines Bürgermeisters bröckelt...

1.10.2010, 23:04 Uhr
Wenn der Mythos eines Bürgermeisters bröckelt...

Hartnäckig hält sich bis in unsere Zeit die Legende, dass Dr. Gross während des Dritten Reichs „parteilos“ gewesen sei – ein Mythos, der sogar in Wikipedia Einzug gehalten hat.

Dr. Gross wurde, wohl auf Grund der kampflosen Übergabe der Stadt im April 1945, nach seinem Freitod von der Stadt Roth ein Ehrengrab errichtet. Es ist auch eine Straße im Norden der Stadt nach ihm benannt.

Selbst wenn es keine Beweise für eine Parteizugehörigkeit von Gross gäbe, so würde vor allem die historische Logik gegen die These der „Parteilosigkeit“ sprechen, da es in der damaligen Zeit gar nicht möglich gewesen wäre, einer Stadt von der Größenordnung Roths als Bürgermeister ohne Parteizugehörigkeit vorzustehen.

Nach durchgeführten Recherchen von Claus Wittek im Staatsarchiv Nürnberg und mithilfe des Bundesarchivs Berlin, wo das Zentralarchiv der NSDAP eingelagert ist, stehen nun folgende Fakten fest: Dr. Robert Gross trat am 1. Mai 1933 in die NSDAP ein; er erhielt die Mitgliedsnummer 3489909.

Er wurde am 18. Juni 1942 von der NSDAP-Kreisleitung Schwabach für das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse vorgeschlagen, was von der NSDAP-Gauleitung Franken mit Unterschrift des damaligen Gauleiters Karl Holz befürwortet wurde. Die Verleihung erfolgte am 1. September 1942.

Die interessantesten Informationen enthält der kurze Begründungstext für den Vorschlag der Auszeichnung: „Pg. (=Parteigenosse) Gross hat sich mit Eifer und Hingabe in der sozialen Betreuungsarbeit der NSV (= Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) besonders ausgezeichnet.

Die Unterbringung von Kindern und Erwachsenen aus luftgefährdenden Gebieten ließ er sich besonders angelegen sein. Durch seine sonstige Haltung trägt er sehr zur Stärkung der Heimatfront bei. Dies ist ihm besonders anzurechnen.“ Darunter noch ein handschriftlicher Vermerk: „Mitglied der Nordischen Gesellschaft“.

In strammer Pose

Einen entsprechenden Eindruck vermitteln die Bilddokumente des Staatsarchivs Nürnberg, die Dr. Robert Gross in strammer Pose in Parteiuniform und Hakenkreuzärmelband bei mehreren Veranstaltungen, unter anderem bei der Grundsteinlegung des Rother HJ-Heims 1938, zeigen. Die Bilddokumente stammen aus dem Nachlass des seinerzeitigen Ortsgruppenleiters Karl Merkel (1899-1960). Der Vermerk über seine „sonstige Haltung“ lässt den Rückschluss zu, dass Dr. Gross ein ergebener Parteigenosse gewesen war.

Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) wurde am 3. Mai 1933, nur wenige Monate nach der Machtergreifung, durch die Nationalsozialisten als Organisation der NSDAP und eingetragener Verein gegründet. Im Zuge der Gleichschaltung mit dem Verbot der Arbeiterwohlfahrt trat die NSV als Staatsorganisation und Verein neben die sieben verbliebenen Wohlfahrtsorganisationen. Zwar gelang der NSV trotz des Verbotes der Arbeiterwohlfahrt nicht die Monopolisierung der gesamten freien Wohlfahrt, jedoch wurden ursprünglich führende Verbände wie das Deutsche Rote Kreuz (DRK), die evangelische Diakonie oder die katholische Caritas zurückgedrängt.

Solange die Massenarbeitslosigkeit noch bestand, half die NSV bedürftigen Familien auch finanziell, danach (etwa ab 1938) verlagerte sie sich auf reine Dienstleistungen. In diesem Zusammenhang betrieb die NSV Kindergärten, die in Konkurrenz zu vergleichbaren kirchlichen Einrichtungen traten.

Partei-Mitglieder brachten ihre Kinder in die neuen NSV-Kindergärten mit ihrem Hitlerkult-Motto: „Händchen falten, Köpfchen senken — immer an den Führer denken. Er gibt euch euer täglich Brot und rettet euch aus aller Not.“

Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges übernahm die NSV immer mehr (eigentlich staatliche) Aufgaben, vor allem im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit. Sie organisierte ab 1940 die Kinderlandverschickung für Kinder unter zehn Jahren. Eines der bekannteren NSV-Hilfswerke wurde „Mutter und Kind“ genannt. Dieses betreute die „arischen“ Frauen während der gesamten Schwangerschaft wie auch nach der Geburt des Kindes. Mütter wurden auch weiterhin in Notfällen finanziell unterstützt. In den Kindergärten und Mütterheimen der NSV fand die Betreuung ihre Fortsetzung.

Welchem Gedankengut Dr. Robert Gross vermutlich schon vor 1933 anhing, scheint der handschriftliche Vermerk bezüglich seiner Mitgliedschaft zur „Nordischen Gesellschaft“ zu belegen. Die „Nordische Gesellschaft“ war eine 1921 in Lübeck gegründete und dort ansässige Gesellschaft, die sich um wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen im Ostseeraum und um die „Pflege des nordischen Gedankens“ bemühte. Im Mittelpunkt ihrer völkischen und rassistischen Ideologie stand der Gedanke, in der „nordischen Rasse“ manifestiere sich die germanisch-deutsche Kulturüberlegenheit.

Die „Nordische Gesellschaft“ verfolgte hauptsächlich drei Ziele: Enge Beziehungen zwischen Deutschland und dem Norden, basierend auf einen „Nordischen Gedanken“. Die Förderung dieses „Nordischen Gedankens“ in Deutschland. Und: Alle „nordisch“ ausgerichteten Bemühungen sollten in der Nordischen Gesellschaft ihren Mittelpunkt finden.

Gleichschaltung

1936 verschmolz die Nordische Gesellschaft mit dem Nordischen Ring, einer Organisation, die zehn Jahre zuvor vom Ministerialrat Hanno Konopacki-Konopath gegründet worden war. Die daraus resultierende Gleichschaltung sollte eine Aufsplitterung in viele kleinere nordische Gruppen verhindern. Diesen Schritt begrüßte auch Rassentheoretiker Hans F. K. Günther, der den „Nordischen Gedanken“ zu einem festen Begriff konstituiert und sich eigentlich zuvor für eine einfache Weggenossenschaft der Vertreter der Nordischen Bewegung ausgesprochen hatte. Aufgelöst wurde die Nordische Gesellschaft erst 1957.

1946 hatte der Rother Stadtrat, wohl als einer der ersten in Deutschland, die Ehrenbürgerwürden für Adolf Hitler, Julius Streicher und Paul von Hindenburg aberkannt. Nach den vorliegenden Fakten und Dokumenten wäre es für den heutigen Stadtrat an der Zeit, über die postmortal verliehenen Ehren für Dr. Robert Gross erneut nachzudenken und eine umfassende Erforschung der Rolle dieses Bürgermeisters zu veranlassen.