Als Radrennen Volks- und Fußball nur Randsportart war

16.9.2011, 09:45 Uhr
Als Radrennen Volks- und Fußball nur Randsportart war

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Keine andere Sportart entwickelte sich vor rund 100 Jahren so rasant wie der Radsport. Besonders der Bahnrennsport – Straßen waren seinerzeit noch in sehr schlechten Zustand – erlebte von den 1890er-Jahren bis zum 1. Weltkrieg einen unglaublichen Boom.

Vor allem die rasanten und ohrenbetäubenden Rennen der Steher, die hinter schweren Schrittmachermotoren mit bis zu 100km/h über die Pisten brausten, füllten in Europa und ebenso in den USA die Ränge der Rennbahnen. Ab 1893 gab es bereits regelmäßig Weltmeisterschaften und Europameisterschaften, und Jahr für Jahr entstanden in fast allen Großstädten neue Pisten.

Als Radrennen Volks- und Fußball nur Randsportart war

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Auch die alte Reichstadt Nürnberg wurde immer mehr vom Radsportfieber erfasst. 1903 gründeten begeisterte Radsportler den „Verein-Sportplatz“, mit dem Ziel in Nürnberg eine Rennbahn zu bauen.

Brauereibesitzer half

Doch wo sollte die Piste entstehen und wie konnte man das Projekt finanzieren? Nachdem langwierige Verhandlungen mit dem Nürnberger Stadtrat und der Tucher-Brauerei um ein passendes Grundstück im Stadtgebiet scheiterten, retteten die Gebrüder Schalkhaußer – Brauereibesitzer in Reichelsdorf – die Situation. Sie überließen dem Verein-Sportplatz einen Teil ihres großen Grundstücks am Reichelsdorfer Keller mit einem 30-jährigen Pachtvertrag und gewährten außerdem ein großzügiges Bau-Darlehen.

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Zusätzlich verkaufte der Verein-Sportplatz Anteilscheine an seine Mitglieder und alle interessierten Radsportfans. Damit war die Finanzierung der Baukosten von 49800 Mark endgültig gesichert. Nach den Plänen des Leipziger Architekten Peter Ludwig begann ab 4. Mai 1904 der Bau der 400m langen Rennbahn mit rund sechs Metern Überhöhung in den Kurven und einer Breite von sieben bis neun Metern.

Bereits am 21. August 1904 konnte die neue Bahn vor mehr als 12000 (!) begeisterten Zuschauern feierlich eröffnet werden. Während sich im gleichen Jahr bei den Spielen des „1. FC Nürnberg“ damals gerade mal einige Hundert Fußballfans einfanden, konnten beim Eröffnungs-Rennen „am Keller“ die Massen kaum bewältigt werden.

„ Einige der Ordnungsleute verloren völlig den Kopf, als sich die Volksmenge durch Eindrücken der Tore gewaltsam Zutritt verschaffte“, berichtete die Chronik des Verein-Sportplatz.

Zu der damals weit vor den Toren der Stadt liegenden Piste kamen die sportlichen Radsportfans mit dem Fahrrad, die große Masse jedoch mit den drei bis vier „Renn-Sonderzügen der 3. Klasse, die am Nürnberger Hauptbahnhof abfuhren. Das Gedränge in den Zügen war so groß, dass die Reichsbahn bald gebeten wurde, künftig auch einen Zug mit Wagen der 2. Klasse zur Verfügung zu stellen, um auch Offizieren und „feinerem Publikum“ eine günstige Gelegenheit zum Besuch der Rennen zu bieten.

Überragender Mann des ersten Reichelsdorfer Renntages war der Berliner Arthur Stellbrink, mehrfacher Deutscher Meister und 1908 Europa-Meister. Als erste Lokalmatadore wurden bei den Sprint- und Tempo-Rennen die Nürnberger Carl Dill und Andreas Kölbl gefeiert.

Premiere für Steher

Das erste Steherrennen fand am Reichelsdorfer Keller am 14. Mai des folgenden Jahres statt. 15000 Zuschauer waren völlig aus dem Häuschen als erneut Arthur Stellbrink vor Andreas Kölbl gewann.

Absoluter Superstar war im ersten Jahrzehnt der Rennbahn Taddäus Robl. Der schnelle Münchner, der 1901 und 1902 als erster Deutscher die WM und die Europameisterschaft der Steher gewann, war auch bei seinen Starts in Nürnberg kaum zu schlagen.

Sämtliche Rennen bis zum Beginn des 1. Weltkriegs waren ausverkauft, denn die berühmten Sprinter-Weltmeister Thorwald Ellegaard (Dänemark), Frank Kramer (USA), Walter Rütt (Berlin) und die Steher-Weltmeister Piet Dickentman (Holland), Bobby Walthour (USA) und Louis Darragon (Frankreich), die häufig am Keller starteten, waren damals ebenso populär wie heute große Fußball-Stars.

Auch vor und nach dem zweiten Weltkrieg waren die Ränge am Keller stets gut gefüllt, vor allem wenn die unvergessenen Steher-Asse und Weltmeister Walter Swall, Erich Möller, Erich Metze und Walter Lohmann starteten.

Gefeierte und beliebte Lokalmatdore waren die Nürnberger Altmeister Fritz Scheller, Georg Voggenreiter, Georg Umbenhauer, der kürzlich verstorbene Karl Kittsteiner, Heinz Jakobi und Lothar Schiller, der 1955 die Europameisterschaft gewann. Ihnen folgten mit dem Beginn des Amateur-Stehersports ab 1968 die Gebrüder Duschl, Horst Gnas, Klaus Burges und Roland Renn als mehrfache deutsche Meister.

In Deutschland die Nummer 2

Neben der Bahn in Erfurt ist die inzwischen 107 Jahre alte Nürnberger Piste heute Deutschlands älteste Radrennbahn. Rund 800 große Renntage, mehr als ein Duzend deutsche Meisterschaften und einige Tausend Trainingsrennen fanden seit 1904 „am Keller“ statt.

Erstmals ist die traditionsreiche Piste nun am Freitag/Samstag Schauplatz einer Europa-Meisterschaft der Steher. „ Die EM-Vorbereitungen laufen seit Monaten. Alle unsere Mitglieder sind im Einsatz für ein gutes Gelingen“, meldet der Verein-Sportplatz, der noch immer dafür sorgt, dass sich auf „seiner Rennbahn“ die Räder drehen und dass die traditionsreiche Piste erhalten und intakt bleibt: „Die einmalige große Tradition ist für uns eine große Verpflichtung, den Bahnradsport und insbesondere den Stehersport zu erhalten“, betont Andreas Zentara, der rührige Boss der Radrennbahn.

 

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