"Ein Heim muss noch nicht sein"

22.8.2015, 08:37 Uhr

© Foto: Günther Wilhelm

Am liebsten strickt sie. Dann ist sie ganz konzentrirert und ausdauernd. Ganz bei sich. Wenn sie zu Nadel und Wolle greift, sitzt Annemarie Hofer im Wohnzimmer im ersten Stock. Am großen Fenster mit den vielen Blumen hat man einen schönen Blick über die Obere Bahnhofstraße.

Hier hat die 89-Jährige über lange Jahre zusammen mit ihrem Mann die eigene Gärtnerei geführt. Auch heute noch geht sie gerne mal hinunter in den Laden, den längst ihr Sohn Albert Hofer mit seiner Frau Jutta leitet. Doch was sie davon wirklich wahrnimmt, ist schwer zu sagen.

„Manchmal erkennt sie uns nicht. Nicht einmal ihren Sohn“, berichtet Jutta Hofer. „Angefangen hat alles mit Lücken im Kurzzeitgedächtnis. Nun fehlt ihr zudem immer öfter die Orientierung und sie lebt stark in der Vergangenheit. Wenn Gegenwart und Erinnerung nicht mehr für sie vereinbar sind und sie nicht mehr weiß, wo sie ist, dann bekommt sie Angst und zittert. Das muss furchtbar für sie sein.“ Annemarie Hofer, die körperlich noch in guter Verfassung ist, hat eine schreckliche Krankheit: Demenz.

„Ein Heim muss noch nicht sein“

Hildegard Zernickow ist nicht dement. „Mir geht es gut“, sagt Jutta Hofers Mutter und lächelt. Doch mit ihren 91 Jahren ist sie körperlich sehr eingeschränkt. Um sich zu bewegen, ist sie auf den Rollator angewiesen und braucht auch dabei Unterstützung. Deshalb haben Hofers schon vor einigen Jahren einen behindertengerechten Treppenlift eingebaut. Von ihrer Wohnung in die ihrer Tochter ebnet eine Holzrampe den Weg über eine Stufe.

Zwei Seniorinnen, zwei Pflegefälle, zwei große Aufgaben. Um sie zu meistern, hat Jutta Hofer ihr eigenes Leben ganz darauf ausgerichtet. Ihre Mitarbeit im Blumengeschäft hat sie deutlich reduziert. So lange wie möglich will sie ihrer Mutter und ihrer Schwiegermutter ein Leben in der gewohnten Umgebung ermöglichen. „Ein Heim muss noch nicht sein“, betont sie. „Die häusliche Situation mit drei eigenen Wohnungen in einem Haus ist ja ideal. Auch meine Schwägerinnen unterstützen uns sehr.“

Dennoch: Pflege ist eine Rund-um-die-Uhr-Aufgabe. „Ich bin 24 Stunden für sie da“, sagt Jutta Hofer. Eine Belastung, die sich nur vorstellen kann, wer sie auf sich nimmt. Wer jahrelang pflegt, erfährt die Grenzen seiner Kraft. Erst recht, wenn er sich um zwei Menschen kümmert.

„Man lebt schon ein bisschen am eigenen Leben vorbei. Spontan was zu unternehmen, geht gar nicht. Darunter leiden die Beziehungen zu Freunden. Alles muss man planen, und dann hat man oft schon gar keine Lust mehr, weil alles zuviel ist.“

Jutta Hofer hat deshalb vor drei Jahren eine wichtige Entscheidung getroffen. Sie suchte sich Hilfe.

Vorbildlicher Wochenplan

„Die Familie Hofer mit zwei pflegebedürftigen Frauen ist ein Sonderfall“, erklärt Inge Rudolph, die Leiterin der Familienpflege bei der Diakonie Roth-Schwabach und wendet sich beim Pressegespräch am Esszimmertisch Jutta Hofer zu: „Ihr macht das vorbildlich. Eure Familie macht wirklich Mut. Man kann das Leben so organisieren, dass man entlastet wird.“

Hofers haben drei unterschiedliche Hilfsangebote zu einem Betreuungs-Wochenplan kombiniert:

Montags kommt eine Helferin ins Haus. Das bereits seit drei Jahren. Dienstags besuchen Hildegard Zernickow und Annemarie Hofer die „Schlüsselblume“, eine mehrstündige Gruppenbetreuung der Diakonie. Das war der zweite Schritt. Seit April sind die beiden Seniorinnen zudem von Mittwoch bis Freitag in der Tagespflege im Abenberger Caritas-Seniorenheim St. Josef und damit den ganzen Tag über versorgt.

„Das ist alles, was ambulant geht“, sagt Inge Rudolph. Ambulant vor stationär: So lautet auch die staatlichen Vorgabe bei der Pflege. Die Kosten dafür sind über die Pflegeversicherung weitgehend gedeckt.

„Uns macht das alles Spaß“, sagt Hildegard Zernickow. „Und für mich ist das eine große Erleichterung, eine Befreiung“, erzählt Jutta Hofer. Diese Hilfen schenken Zeit. Zeit zum Durchatmen. Zeit, die Angehörige wie Jutta Hofer dringend brauchen. Denn abends, nachts und an den Wochenenden ist sie weiter voll gefordert.

„Große Hemmschwelle“

„Du hättest schon viel früher Hilfe bekommen“, betont Inge Rudolph. „Aber die Hemmschwelle ist schon groß“, antwortet Jutta Hofer. „Und am Anfang ist ja alles so unübersichtlich.“ Was ist das Richtige für die jeweilige Situation? Was kostet was?

„Die Angehörigenberatung der Diakonie hat mir sehr geholfen“, erzählt Jutta Hofer. „Und inzwischen gibt es in Roth und Schwabach ja auch die Pflegestützpunkte zur Information“, ergänzt Inge Rudolph.

Diese große Hemmschwelle zu überwinden, half aber auch ein Zufall. Jutta Hofer ist mit einer Helferin der Diakonie befreundet: Seit Dezember 2012 kommt Hilde Tonn, eine gelernte Krankenschwester, abwechselnd mit ihrer Kollegin Christa Schretzmeier zu Hofers ins Haus. Die eine vormittags, die andere nachmittags.

Sie sind zwei von 60 Helfern und — in der großen Mehrzahl — Helferinnen, die bei der Diakonie im Projekt „Pausenzeit“ arbeiten und das leisten, was im Fachjargon „zusätzliche Betreuungsleistung“ heißt. „Man kümmert sich stundenweise als Helfer, wenn die Pflegeperson verhindert ist“, erläutert Inge Rudolph den Begriff und präzisiert: „Es ist keine Pflege, sondern eine Betreuung.“

Hilde Tonn formuliert es noch einfacher: „Ich mache das, was gerade ansteht.“ Inklusive die beiden Senioreninnen zur Toilette zu begleiten. Sich ganz auf die beiden Damen einstellen, das ist die Kunst, für die es bei Demenzpatienten vor allem eines braucht: „Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft, sich in ihre Welt einzulassen“, sagt Hilde Tonn.

Konkret heißt das zum Beispiel bei Annemarie Hofer, „ihr geliebtes Hobby, das Stricken, besonders zu pflegen und wertzuschätzen“, so Hilde Tonn. Bei gemeinsamen „Handarbeitsstunden“ stickt Annemarie Hofer und Hildegard Zernickow vernäht die Fäden der Strümpfe.

„Dabei kann man gut über früher erzählen und sich erinnern. Frau Hofer wird dabei oft sehr gesprächig und lebendig. Auch beim gemeinsamen Singen fällt mir ihre gute Stimme auf. Oft kennt sie ganze Strophen noch auswendig. Es ist eine Freude, schlummernde Talente neu zu entdecken“, erzählt Hilde Tonn. „Bei Frau Zernickow ist das mit dem Basteln und Malen so. Zuerst hat sie gesagt, das sie das sowie nicht könne. Jetzt macht es ihr großen Spaß, bunte Leinwandbilder zu malen.“

Fähigkeiten aufrecht erhalten

Basteln, Singen, Stricken, Backen, Kochen und – ganz wichtig – das gemeinsame Kaffeetrinken. Hilde Tonn hält einen Moment inne, als sie davon berichtet. „Das hört sich alles so banal an.“

Ist es aber nicht. Fähigkeiten lassen sich am besten im Alltäglichen aufrecht erhalten. „Mir geht es darum, das, was früher war, wirklich zu würdigen, weil die Damen das spüren. Gleichzeitig will ich das Heute achten. Ich freue mich immer, wenn ich zu Frau Hofer und Frau Zernickow komme“, sagt Hilde Tonn. „Und ich“, fügt Jutta Hofer hinzu, „kann mich auf meine Helferinnen verlassen.“

Näheres zur „Pausenzeit“ unter www.diakonie-roth-schwabach.de

Keine Kommentare