Flächenfraß im Freistaat: Hektar sind nicht gleich Hektar

12.4.2018, 10:56 Uhr
Flächenfraß im Freistaat: Hektar sind nicht gleich Hektar

© Foto: Bayerische Vermessungsverwaltung

"Jeden Tag verschwinden 13 Hektar Bayern unter Asphalt und Beton. Das entspricht 18 Fußballfeldern", wird gleich auf der Startseite des von Grünen, Bund Naturschutz, Landesbund für Vogelschutz und anderen Gruppierungen angestrebten Volksbegehrens "Betonflut eindämmen" proklamiert. Dass diese Zahlen aus dem Jahr 2015 stammen, es aber schon längst neuere Zahlen für 2016 gibt, wird an dieser Stelle verschwiegen. Wohl ganz bewusst: Der Flächenverbrauch ist in dem Zeitraum nämlich deutlich gesunken, von 13,1 auf 9,8 Hektar pro Tag.

Die Staatsregierung argumentiert dagegen natürlich sehr bewusst mit den neuen Zahlen, kann sie damit doch vermitteln, dass sie etwas tut gegen den Flächenfraß in Bayern und dass das Problem gar nicht so groß ist, wie von den Volksbegehren-Befürwortern propagiert wird.

Zugleich haben sich aber die Datengrundlagen für die Flächenberechnung in den vergangenen Jahren mehrfach verändert, einzelne Nutzungsarten werden auch anders bewertet als zuvor. Das bayerische Umweltministerium konstatiert deshalb: "Durch die Änderung der Systematiken ist die Vergleichbarkeit der Daten ab 2016 mit den Vorjahren aus methodischen Gründen erheblich eingeschränkt."

Wer hat nun also Recht in dieser Diskussion? Wie vergleichbar sind die Daten, und vor allem: Wie nah sind sie an der Realität?

Rückgang ist kein dauerhafter Trend

"Mit der Aussage zur geringen Vergleichbarkeit hat das Umweltministerium etwas übertrieben", meint Roland Kießling, der als Experte für die Nutzungsarten von Flächen im Vermessungsamt Schwabach angestellt ist. Anfangs war man sich nämlich nicht sicher, wie groß der Unterschied durch die neue Systematik sein würde. Mittlerweile weiß man aber: "Der Einfluss der veränderten Systematik liegt bei weniger als zwei Prozent", betont Wolfgang Bauer, Präsident des bayerischen Landesamtes für Vermessung.

Das heißt: Der Großteil des Rückgangs von 13,1 Hektar Flächenverbrauch pro Tag im Jahr 2015 auf 9,8 Hektar im Jahr 2016 ist ein tatsächlicher Rückgang. Ein dauerhafter Trend ist das aber noch nicht. Die Daten für das Jahr 2017 veröffentlicht das Landesamt für Statistik erst im kommenden Herbst.

Über die wirklich versiegelte Fläche sagt das ohnehin noch nichts aus. Diese wird nämlich von den Vermessungsämtern gar nicht erfasst. Deshalb hat das Landesamt für Umwelt im Jahr 2015 exemplarische Flächen untersucht. Das Ergebnis: Nur 50,9 Prozent der als Siedlungs- und Verkehrsflächen ausgewiesenen Areale sind tatsächlich versiegelt, das sind sechs Prozent der Landesfläche Bayerns. "Wie man das jetzt einordnet, ob das viel ist oder wenig, wie viel wünschenswert wäre für die Zukunft – das ist Sache der Politik", sagt Bauer.

"Als die Flächensystematik eingeführt wurde, hat noch keiner an den Flächenverbrauch gedacht, das ist die Crux an der Sache. Bis vor ein paar Jahren haben die Zahlen noch keinen interessiert", erläutert Kießling.

Der Vermessungsverwaltung geht es traditionell vor allem darum, Grundstücksgrenzen exakt zu vermessen und den Flächen Nutzungsarten zuzuordnen, um eine gerechte Besteuerung zu ermöglichen. "Deshalb ist die Vermessung auch immer noch im Finanzressort angesiedelt", erläutert Bauer. Dass man aus diesen Daten dann den Flächenverbrauch berechnen kann, ist letztendlich Beiwerk.

Überflug zur Datenerfassung

Bis zum Jahr 2011 konnte man den Flächenverbrauch nur relativ ungenau angeben, die Daten waren alles andere als aktuell. Ende der 1980er Jahre wurden zwar immerhin die alten, analogen Liegenschaftskataster digitalisiert, die Daten wurden aber ohne weitere Überprüfung in das neue System übernommen.

Die große Änderung kam dann 2011 mit der Einführung des Amtlichen Liegenschaftskataster-Informationssystems (ALKIS). Es basiert auf bundesweit einheitlichen Standards und macht somit einen Vergleich von Bundesländern möglich. Vor allem aber werden seit 2011 Luftaufnahmen zur Bewertung der Flächen verwendet. Jedes Jahr wird die Hälfte der bayerischen Landesfläche überflogen und fotografiert. Dadurch kann man Nutzungsänderungen und letztlich auch den Flächenverbrauch deutlich detaillierter und aktueller erfassen.

"Dabei haben wir eine bis auf 20 Zentimeter genaue Bodenauflösung. Wir könnten das theoretisch auch noch sehr viel genauer machen, aber dann können wir auch Dinge erkennen, die datenschutzrechtlich relevant sein könnten", erläutert Bauer.

Weil das neue System zwischen 2011 und 2015 noch nicht überall in Deutschland einsatzbereit war, musste Bayern die Daten zurückrechnen. "Wir haben quasi die neuen, guten Daten in das alte System gepresst", verdeutlicht Kießling. Seit 2016 kann man sich diesen Schritt sparen. Seither arbeiten alle Bundesländer mit diesem System.

"Seit 2011 sind die Zahlen mit der Ungenauigkeit von zwei Prozent vergleichbar, die Daten davor sind dagegen nicht mehr mit den neueren Zahlen vergleichbar, sie sind zu ungenau", betont Kießling.

Wobei: Uneingeschränkt vergleichbar sind die Bundesländer auch jetzt noch nicht. "Andere Bundesländer erfassen Flächen erst ab 200 oder 300 Quadratmetern separat. Da geht zum Beispiel ein kleiner Parkplatz im Wald in der Waldfläche auf. In Bayern hingegen gehen wir bis auf zehn bis 20 Quadratmeter herunter", sagt Kießling.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Durch die neue Systematik wird die Nutzung der Flächen genauer erfasst. Viel exaktere Aussagen über Flächenverbrauch und Versiegelung kann man aber trotzdem nicht treffen. Wenn man früher lediglich "Grünanlage" notiert hat, so unterscheidet man heute in Grünanlagen, Erholungsflächen, Parks, Gärten oder Spielplätze. Während eine Erholungsfläche früher einfach eine Erholungsfläche war, wird heute unterschieden in Freizeitpark, Freilichttheater, Campingplatz und vieles mehr.

Gemeinsam ist jedoch allen: Sie alle zählen zur Siedlungs- und Verkehrsfläche – obwohl sie bei weitem nicht komplett bebaut sind. Auch Golfplätze, Friedhöfe und der Nürnberger Tiergarten werden zur Siedlungs- und Verkehrsfläche gerechnet, die in der allgemeinen Wahrnehmung als bebaut gilt, dies aber eben nicht in jedem Fall ist.

Nur wenige Nutzungsarten wurden grundsätzlich anders eingeordnet. Unbebaute Bauplätze etwa gelten nun anders als früher nicht mehr als Siedlungs- und Verkehrsfläche, dafür zählen Kleingartenkolonien neuerdings dazu – obwohl nur ein Teil der Fläche tatsächlich bebaut ist.

In Bayern sind neben den 500 Vermessungstrupps auch 15 Gebietstopographen unterwegs. Sie haben die Landesfläche unter sich aufgeteilt und überprüfen jedes Jahr das komplette Gebiet, für das sie zuständig sind.

"Dadurch haben wir viele Informationen, die wir bisher gar nicht verwenden, zum Beispiel ob Verkehrsflächen mit Kies, Beton oder Asphalt bedeckt sind — das könnte man natürlich auch auswerten, wenn das Statistikamt das so möchte", verdeutlicht Bauer.

Fehlende Definitionen

Doch wenn man eines Tages die Versiegelung genauer erfassen möchte, gibt es viele Streitfragen, die Erfassung ist beliebig aufwendig: Zählt man etwa einen winzigen Rasenstreifen auf einem Parkplatz als Grünfläche, wie bewertet man Grundstücke mit Rasengittersteinen?

"Letztlich muss die Politik definieren, was für sie Flächenverbrauch ist. Wenn man die Nutzungsarten künftig anders einordnen möchte, müsste das letztendlich das Bundesamt für Statistik entscheiden", betont Bauer.

Beispielsweise Golfplätze oder Friedhöfe nicht mehr zur Siedlungs- und Verkehrsfläche zu zählen, wäre technisch ziemlich einfach. Tatsächlich würde man sich damit aber neue Probleme machen, gibt Bauer zu bedenken: "Dann würde man zu diesem Zeitpunkt wieder völlig neu anfangen. Da kann man dann überhaupt keine Vergleiche zur Vergangenheit mehr ziehen."

Momentan könne man zwar keine absoluten Zahlen liefern, aber zumindest mit sehr großer Genauigkeit ermitteln, wie sich Flächenverbrauch und Versiegelung im Vergleich zu den Vorjahren relativ entwickeln. "Und das ist es ja letztlich, was die Politik vor allem interessiert", sagt Bauer.

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