„Günthel, Günthel, wo sein die Tüchel?“

21.11.2014, 16:33 Uhr

Die prickelndsten Momente einer Magier-Show sind ja gar nicht die, wenn aus einer brennenden Schnur plötzlich eine Krawatte wird oder ein Plastikei in einem schwarzen Beutel auftaucht, irgendwelche Karten erraten werden, ein leeres Buch plötzlich doch bedruckt ist oder was der Zauberkasten für Fortgeschrittene sonst noch an Sensationen bereit hält.

So nett ja auch das ist, richtig spannend aber wird es, wenn der Zauberer von der Bühne klettert, durchs Publikum streift und sich ein Opfer zum Vorführen grapscht. Normalerweise atmet man tief durch, wenn er auf der anderen Seite des Saals zuschlägt.

Doch bei der Gala kürzlich in der Galerie Gaswerk hatte der Zauberer geradezu unerhörten Dusel, nicht mich ausgewählt zu haben.

Um das zu erklären, muss ich kurz zehn Jahre zurückblenden — zu einer Tagblatt-Weihnachtsfeier mit feinem Essen, gutem Wein und diesem Dreckskerl von Magier.

Ihm verdanke ich einen der peinlichsten Momente meines Lebens. Bis heute hauen sich meine höchst geschätzten Kollegen noch die Hände auf den Oberschenkeln wund, wenn sie an meinen unfreiwilligen Auftritt denken. Kein Zweifel: In der Rolle des Deppen war ich eine Traumbesetzung.

Der Herr Magier trat als chinesischer Zauberer auf, zwang mich auf einen einsamen Stuhl auf der Bühne, hielt mir eine Packung Kleenex-Tücher vor die Nase, zog sie einzeln heraus und ließ sie im nächsten Augenblick wieder verschwinden. Dabei schrie er mich in seinem schrillen chinesischen Dialekt ständig an: „GÜNTHEL, GÜNTHEL, WO SEIN DIE TÜCHEL?“

Zu meiner Überraschung schienen alle anderen genau zu wissen, wo die blöden Tücher abgeblieben waren. Nur ich nicht. Vor mir lagen die Leute vor Lachen am Boden, während der Chinese ein Kleenex nach dem anderen rausrupfte, sie alle in Luft auflöste, endlich eine Antwort wollte und deshalb mit jedem Stück Papier immer lauter wurde: „GÜNTHEL, GÜNTHEL, WO SEIN DIE TÜCHEL?“ Für eine qualifizierte Antwort mangelte es mir nicht nur an magischem Grundwissen. Wer bitte kann bei diesem pausenlosen „GÜNTHEL-GÜNTHEL“-Geplärre schon fundiert nachdenken und sich auf verzauberte Papierfetzen konzentrieren?

Tuch raus, Tuch weg, GÜNTHEL, GÜNTHEL, Tuch raus, Tuch weg, GÜNTHEL GÜNTHEL: Folter in der Endlosschleife! Am liebsten wäre ich mitverschwunden.

Nun: Im Gaswerk war der Zauberer kein Chinese und das Opfer eine Frau. Er hat auch nicht rumgeschrieen und die Taschentücher waren kleine rote Softbälle. Doch der fiese Trick war der gleiche: Ball vor die Nase und weg war er. Ball vor die Nase und weg damit. Ball — weg, Ball — weg, Ball — weg.

Die Leute waren wie damals meine netten Kollegen: Sie haben sich gekringelt. Nur ich hatte Mitleid. Mit der armen „Assistentin“ — und nochmal so richtig mit mir.

In diesem Moment hätte ich gerne mit meiner Schicksalsgenossin getauscht. Wahrscheinlich hätte ich vor neuer Nervosität und alter Wut keinen Ton herausgebracht. Aber wenn ich denn cool geblieben wäre, dann hätte ich den Herrn Zauberer sich ein wenig austoben lassen, hätte verlegen gelächelt, hätte so doof es nur geht geguckt, hätte ihn seinen billigen Triumph erst noch ein wenig genießen lassen...

Und dann! Und dann! Dann hätte ich mich zurückgelehnt, die Beine ausgestreckt, demonstrativ gelangweilt gegähnt und ihn plötzlich in schrillstem Chinesisch angebrüllt: „ZAUBELEL! ZAUBELEL! WIESO DU MIR DAUERND SCHMEISSEN BÄLLE ÜBER KOPF? ICH NICHT SO BLÖD WIE DENKEN DU! UND WANN DU KEHREN AUF DIE BODEN HINTER STUHL?“

Das wäre mein bester Trick gewesen. Aber leider saß ich unten im Publikum. Und meine Rache ist wie die beste Magie — nur eine Illusion.

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