Public Video Viewing
19.7.2014, 10:01 UhrMontag: Morgens lese ich Mails von Freunden aus Wales und den USA. Alle gratulieren mir zur Weltmeisterschaft. Völlig verdientermaßen. Schließlich sind wir doch alle ein bisschen gaga, sorry, Weltmeister natürlich. Abends mache ich kurz vor zehn den Fernseher an. Da steht aber nur Claus Kleber. Gaza statt Götze. So hart ist Wirklichkeit.
Noch schlimmer: Neben mir auf der Couch sitzen drei fremde Menschen. Sie sagen, sie wohnen hier. Sie sagen, sie wären auch in den vergangenen fünf Wochen da gewesen. Nur hätte ich niemanden wahrgenommen. Sie hätten sich echte Sorgen gemacht und sogar den Notarzt geholt.
Der habe wissend genickt und was von „akut autistischem WM-Syndrom“ erzählt. Aber helfen konnte er mir nicht. Wie auch? Ich hab’ ihn ja nicht mal bemerkt. Muss der auch beim Elfmeterschießen aufkreuzen?
Dienstag: Keine Arbeit, ein freier Tag für den Sonntagsdienst. Stehe im Garten und häcksle den kaputten Kirschbaum. Unverschämtheit. Nie hätte ich gedacht, dass man als Weltmeister so schuften muss.
Aber im Geiste bin ich in Berlin und lass’ mich mitfeiern. Die schönen Bilder, so viele glückliche Menschen. Und wie unsere Jungs tanzen und singen können: „So gehn die Gauchos, die Gauchos gehen so...“ Das ist sooo sympathisch. Das Leben ist wunderbar.
Bis abends um zehn: Wieder dieser Kleber mit seiner dauernden Ukraine-Krise. Wann ist wieder WM?
Mittwoch: Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Sonst bin ich nicht so nervös. Tag drei ohne Fußball, und mein rechter Daumen zittert ständig. Ich brauche dringend eine Fernbedienung. Abends versuch’ ich’s bei der ARD. Thomas Roth statt Claus Kleber, aber keine Live-Bilder aus Jogis Urlaub. Nicht mal Interviews mit den Spielerfrauen. Wofür bitte zahl’ ich denn Gebühren?
Apropos Spielerfrauen: War es nicht herzallerliebst, wie die Damen ihre abgekämpften Helden noch auf dem Spielfeld geknuddelt haben? Besonders Frau Weidenfeller. Oder war es Frau Khedira? Oder Frau Mertesacker? Egal, sie sehen ja irgendwie alle ein klein wenig ähnlich aus.
Ein Kumpel von mir spottet deshalb nur. Bubimillionäre mit Möchtegernmodels. Das sei doch wie aus der Soap. Und die Mädels wie aus dem Katalog. Da hat er natürlich völlig recht. Wo gibt’s gleich nochmal den Katalog?
Donnerstag: Die Polizei hält mich an, weil ich hupend durch die Fußgängerzone fahre. Ein einziges Auto sei noch kein Korso. Und überhaupt: Die Party sei vorbei. 15 Euro als Erinnerungshilfe. Spaßbremsen, verbeamtete! Man wird doch wohl noch ein bisschen nachfeiern dürfen.
Und Weltmeister abkassieren, das geht überhaupt nicht. Jagd mal lieber Verbrecher: Beißer, Blutgrätscher und Elfmeterschinder. Aber ich hab’ mich gerächt. Als die Streife weg war, bin ich in der Hocke um den Schönen Brunnen gewatschelt und hab’ gesungen: „So gehn die Gauchos und Po-li-zis-ten auch...“
Freitag: Junge Mädels drehen sich nach mir um und lächeln mich an. Die schwarz-rot-goldene Schminke im Gesicht macht mich noch attraktiver. Meine Kollegen sagen, ich würde nicht angelächelt, sondern ausgelacht. Ich solle nach all den Wochen bitte endlich dieses blöde Klose-Trikot ausziehen und mich zur Abwechslung mal wieder duschen.
Das käme in der Redaktion und vor allem bei Terminen irgendwie besser. „So gehn die Kollegen, Kollegen gehen so...“
Samstag: Heute Abend geht’s rund. Die Nachbarn sind schon eingeladen. Eine Schubkarre Chips, ein Fässchen Bier, die große WM-Nacht. Alle deutschen Spiele nochmal nonstop. Public Video Viewing.
Meine Rettung.
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