Ein Euphemismus

6.8.2017, 13:39 Uhr
Ein Euphemismus

Auf den russischen Friedhof bin ich zufällig gestoßen. Ich hatte mir einen orthodoxen Begräbnisplatz mit Marmorsteinen erwartet, in denen Porträts der Verstorbenen eingeätzt sind, Ikonen, Doppelkreuze, eine Kapelle mit Zwiebeltürmen, etc. Schon die Lage am äußersten Stadtrand hat mich irritiert, der Eingang erinnert an einen verwunschenen Obstgarten, und dann ist das Erste, was man hinter dem uneinladenden Friedhofstürchen zu sehen bekommt, eine Informationstafel des Weißenburger Imkervereins – samt Bienenstöcken.

Bei den Gräbern wurde mir dann klar, dass hier keine Mitglieder einer russischen Gemeinde ruhen, ich hat­te mit einem Pendant zur „Polensiedlung“ gerechnet, sondern Opfer des NS-Terrors. Blumenrabatte. Drei schlichte Gräberreihen mit einfachen Holzkreuzen, auf denen Na­men wie Kowalenko, Samuel Gutman, Moses Roiter oder Naftalis Michelsons stehen. Dazu Sterbedaten aus den Kriegsjahren.

Wer sind diese Toten? Juden? War in Weißenburg die Dependance eines Konzentrationslagers? Später erfahre ich, dass auf der Wülzburg Bürger der Sowjetunion, Zivilisten und Matrosen, die zum Zeitpunkt des Überfalls auf Russland in Deutschland, Polen oder Tschechien gelebt hatten, gefangen gehalten wurden. Zwangsarbeiter, dazu verurteilt, in den Weißenburger Betrieben zu malochen.

Eines ist schon klar, keine noch so schön herausgeputzte Gedenkstätte kann geschehenes Unrecht wiedergutmachen, dass sich dieser „russische Friedhof“ aber ausgerechnet im ehemaligen Fallgarten befindet, stößt mir doch sauer auf. Fallgarten? Nein, hier wurde nicht Fallobst angebaut und auch nicht von Fall zu Fall etwas anderes, sondern hier lebten die Abdecker und Wasenmeis­ter, die ihr kümmerliches Dasein da­mit fristeten, toten Tieren das Fell abzuziehen, die Knochen auszukochen und verfaulte Fleischmasse den Salpetersiedereien zuzuführen.

Ein unehrlicher Beruf, der den Kindern dieser Wasenmeister kaum Perspektiven ließ. Die meisten mussten den Nachwuchs anderer Abdecker heiraten und das übelriechende, nicht ungefährliche, im Wortsinn verseuchte Gewerbe ihrer Eltern fortführen, was dazu führte, dass nicht wenige Wasner mitei­nander verwandt waren und manche in das ungleich wohlriechendere Gewerbe der Räuberei abglitten: Schinderhannes, Räuber Grasel.

Die Nazis hatten den Fallgarten nicht zufällig gewählt, wurde doch so der Wert der Toten, die man nur in Teerpappe eingewickelt verscharrte, damals sagte man eingeschaufelt, mit dem von Tierkadavern gleichgesetzt. Bereits im August 1945 haben sich Weißenburger Bürger über diese menschenunwürdige Begräbnisstätte beschwert. Seither wurden zwar Andreaskreuze und eine Stele errichtet, hat eine Delegation Überlebender der Wülzburg-Internierung den Friedhof besucht, aber ein gewisser Hautgout haftet diesem traurigen, verwunschenen, irgendwie verdrängten Ort noch immer an, dessen Bezeichnung „russischer Friedhof“ eigentlich ein Euphemismus ist.  

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