Wortgefecht bei Amoklauf: Anzeige wegen Beleidigung

5.8.2016, 09:54 Uhr
Ein 18-Jähriger eröffnete in einem Münchner Einkaufszentrum das Feuer auf Passanten. Er tötete dabei neun Menschen und anschließend sich selbst.

© dpa Ein 18-Jähriger eröffnete in einem Münchner Einkaufszentrum das Feuer auf Passanten. Er tötete dabei neun Menschen und anschließend sich selbst.

Das Handy-Video dauert nicht einmal zwei Minuten - doch es zeigt eine Schlüsselszene am Ende des Amoklaufs in München. Während die Polizei aufgrund erster Zeugenaussagen noch von einer "akuten Terrorlage" ausgeht, während Panik über der Stadt liegt, kursiert diese Sequenz plötzlich im Internet: ein Schrei-Duell zwischen einem Bewaffneten auf einem Parkdeck und einem Anwohner.

Die Aufnahme legt nahe, was die Polizei zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß oder jedenfalls noch lange nicht kommuniziert: dass es sich bei der Bluttat mit neun Todesopfern um die Tat eines Einzelnen handelt als um das Werk einer organisierten Terrorgruppe.

Der Mann auf dem Balkon direkt neben dem Münchner Einkaufszentrum OEZ ist der Baggerfahrer Thomas Salbey (57) - und seine Wortwahl ist eher explizit: "Arschloch" und "Wichser" brüllt Salbey immer und immer wieder hinüber, meist in bayerischem Dialekt. "Was machst'n für'n Scheiß?" Und: "Du gehörst in die Psychiatrie." Zudem versucht er offenbar Passanten zu warnen. "Der hat eine Schusswaffe", ruft er. "Der hat seine Waffe geladen."

Der 18-Jährige Amok-Schütze lässt sich auf den Streit ein, brüllt zurück. "Wegen euch wurde ich gemobbt", ruft er. "Und jetzt muss ich 'ne Waffe kaufen." Und dann brüllt er zu Salbey hinüber: Irgendwann versucht er, Salbey zum Schweigen zu bringen: "Kein Wort mehr. Halten Sie die Schnauze, Mann." Dann fallen Schüsse, offenbar in Richtung des Wohnhauses, man hört Schreie.

Gegenüber der Nachrichtenagentur dpa erklärte der Gewalt-Deeskalationstrainer Heinz Kraft, der sich viel mit Amokläufen beschäftigt hat, dass Salbey – wohl unwissentlich – genau richtig gehandelt hat: "Er hat den Täter aus dem Konzept gebracht. Er hat ihn irritiert." Mit wüsten Beschimpfungen habe der Täter sicherlich nicht gerechnet – nun habe der 18-Jährige plötzlich neu überlegen müssen, wie es weitergeht. Jedenfalls hätten sich in diesen zwei Minuten wohl viele Menschen in Sicherheit bringen können.

"Grundtatbestand der Beleidigung"

Das sieht allerdings nicht jeder so: Wie Oberstaatsanwalt Thomas Steinkraus-Koch gegenüber der Münchner TZ bestätigte, ging gegen Salbey eine Anzeige ein. "Der Anzeigenerstatter wirft ihm vor, dass er durch sein Verhalten, insbesondere die gegen den Amokschützen ausgesprochenen Beleidigungen, den Amokschützen erst zur Tat provoziert hat", wird Steinkraus-Koch in dem Blatt zitiert.

Die Anzeige erstattet hat nach eigenen Angaben eine YouTube-Nutzerin namens Xscape. In einem am 4. August veröffentlichten Video erklärt sie ihre Beweggründe: Es ginge nicht nur um den "Grundtatbestand der Beleidigung", sondern darum, dass Thomas Salbey den Amokläufer auch durch seine Worte derart provoziert habe, dass er nach dem Wortgefecht weiter um sich schoss. Daher habe er sich unter anderem der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht. Auch die Menschen, die den 18-jährigen Amokläufer gemobbt haben, werde sie anzeigen, kündigt die YouTube-Nutzerin an.

Zumindest die Anzeige gegen Salbey wird allerdings offenbar im Sande verlaufen: "Der Anzeigenerstatter geht offensichtlich fehlerhaft davon aus, dass zu dem Zeitpunkt, als das Video entstanden ist, der Amoklauf erst noch bevor stünde", so zitiert die TZ Oberstaatsanwalt Steinkraus-Koch. "Dies ist aber nicht richtig: Zu diesem Zeitpunkt hatte der Amokschütze bereits neun Menschen getötet. Wir werden daher das Verfahren einstellen.“

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