Ene, mene, meck – und du bist weg !

10.7.2018, 17:00 Uhr
In ein paar Tagen ist es wieder so weit: Wer zu viele Fünfer und Sechser im Zeugnis hat, fällt durch.

© Keystone In ein paar Tagen ist es wieder so weit: Wer zu viele Fünfer und Sechser im Zeugnis hat, fällt durch.

Sollte Max das Klassenziel erreichen, stehen ihm arbeitsreiche Sommerferien ins Haus. "In Mathe und Französisch müsste ich schon viel aufholen", sagt er. Ansonsten geht die Zitterpartie im nächsten Schuljahr weiter.

Doch viel Motivation zum Lernen hat er nicht mehr. "Ich schaffe es ja doch nicht", sagt Max resigniert. In dieser Situation bleiben ihm nur zwei Möglichkeiten: Sitzenbleiben oder die Schule wechseln.

Nach Angaben des Bayerischer Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV) wiederholten im vergangenen Schuljahr etwa 50 000 Schüler eine Klasse. Ein Verbraucherportal hat für das Schuljahr 2014/15 einen "Sitzenbleiber-Atlas" Deutschlands erstellt. Unter allen Bundesländern ist Bayern die Nr. 1.

Sind bayerischen Schüler dümmer als der Rest der Bundesrepublik? Oder sind die Ansprüche im Freistaat besonders hoch? Für das bayerische Kultusministerium ist das Sitzenbleiben ein "pädagogisches Instrument, das in besonderen Situationen dem einzelnen Schüler in seiner Bildungsbiografie helfen kann".

Entgegengesetzter Meinung ist Prof. Michaela Gläser-Zikuda, Inhaberin des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der Uni Erlangen-Nürnberg: "Sitzenbleiben ist völliger Unsinn". Sie hält überhaupt nichts von der sogenannten Ehrenrunde. "Die Schüler verlieren damit nur Zeit. Außerdem verursacht es enorme Kosten."

Immense Mehrkosten

Derselben Ansicht ist die BLLV-Vorsitzende Simone Fleischmann: "Fernab von der Frage, ob dies pädagogisch sinnvoll ist, bedeutet das Nicht-Versetzen immense Mehrkosten." Der BLLV schätzt, dass dadurch jährliche Kosten von etwa 440 Millionen Euro verursacht werden.

So leer wie diesen Hörsaal stellt sich Prof. Michaela Gläser-Zikuda am Schuljahresende jedes Klassenzimmer vor – in dem übertragenen Sinne, dass kein einziger Schüler sitzengeblieben ist.

So leer wie diesen Hörsaal stellt sich Prof. Michaela Gläser-Zikuda am Schuljahresende jedes Klassenzimmer vor – in dem übertragenen Sinne, dass kein einziger Schüler sitzengeblieben ist. © Eduard Weigert

Für die Kinder selbst sei das Sitzenbleiben ein sehr negatives Erlebnis, sagt Michaela Gläser-Zikuda. "Sie werden aus dem Klassenzusammenhang gerissen und verlieren Freunde. Das Schlimmste: Sie fühlen sich lange Zeit als Versager." Das Sitzenbleiben sei daher ein zweifelhaftes schulisches Werkzeug. Weder würden dadurch Lernschwächen behoben, noch bessern sich dauerhaft die Leistungen. Kurzum: Eine Extrarunde sei Zeitverschwendung, meint die Professorin.

Nach ihrer Meinung darf es erst gar nicht so weit kommen. Es sollte rechtzeitig gegengesteuert werden. "Sackt ein Schüler in seinen Leistungen ab, muss nach den Ursachen geforscht werden. Häufig ist nicht das Leistungsvermögen der Schüler das Problem. Durch individuelle Lernangebote, geeignetes Coaching oder Fördermaßnahmen könnte das Sitzenbleiben vermieden werden."

Leider dominiere an den weiterführenden Schulen oft das Fachverständnis der Lehrer – und der individuelle Blick auf das Kind gehe verloren. "Lehrer müssen sich mehr als Pädagogen verstehen und nicht so sehr als Fachvermittler. Sie sollten sich nicht durch den Lehrplan gängeln lassen", fordert Gläser-Zikuda.

Für Max ist es dafür zu spät. Er fühlt sich überfordert und ist mittlerweile überzeugt, dass Lernen sowieso nichts mehr bringt. Was nun?

Michael Bayer ist Beratungslehrer an der Realschule am Europakanal in Erlangen und kennt Schüler wie Max. "Das ist ganz typisch. Trotz großen Aufwands bleiben für einige Schüler am Gymnasium die Erfolgserlebnisse aus. Das ist für sie enorm frustrierend. Da könnte natürlich ein Wechsel an eine Realschule in Sachen Motivation einiges bewirken."

Dennoch: "Auch an der Realschule muss ein gewisses Maß an Interesse und Leistungsbereitschaft vorhanden sein", sagt Bayer, "mangelhaftes Arbeitsverhalten führt auch bei uns zum Scheitern." Außerdem müssten Schüler und Eltern von einem Wechsel überzeugt sein. Sie sollten es nicht als schulischen Abstieg verstehen.

Nach Auskunft des Kultusministeriums sind im Schuljahr 2016/17 in der Unterstufe (Jahrgangsstufen 5 bis 7) 5 Prozent, in der Mittelstufe (Jahrgangsstufen 8 bis 10) 3,9 Prozent der Schüler vom Gymnasium an eine andere Schulart gewechselt.

Diese Zahlen spiegeln sich auch in Michaels Bayers Erfahrungen wider: Pro Schuljahr bekomme er eine dreistellige Zahl Anfragen verzweifelter Eltern. "Die meisten der Anfragen kommen von Eltern, deren Kinder auf dem Gymnasium sind. Vor den Zwischenzeugnissen und den Jahreszeugnissen erreichen mich sogar zwei bis drei Anfragen pro Tag."

In Bayers Augen funktioniert ein Wechsel bis zur 7. Klasse relativ reibungslos. Danach entscheiden sich die Schüler in der Realschule für mathematische, sprachliche, verwaltungsbezogene oder gestalterische Schwerpunkte. Ein späterer Übertritt wird daher immer schwieriger. Die Anmeldezahlen der Wechsler an der Realschule am Europakanal sind sehr hoch.

Viele Schüler wollen wechseln, können aber nicht genommen werden. "Unsere Schule platzt jetzt schon aus allen Nähten. Baulich haben wir zwar durch einen Container und einen Anbau bereits aufgestockt, aber die Aufnahmekapazität ist begrenzt", erläutert Bayer – und findet das "sehr, sehr bedauerlich".

Daher verweist er als Alternative auf die Wirtschaftsschule und den M-Zweig der Mittelschulen. Und er sagt: "Das Verhältnis der Schulen in Erlangen stimmt einfach nicht. Es gibt sieben Gymnasien, aber nur zwei Realschulen. Wir benötigen dringend eine dritte Realschule, zum Beispiel im Erlanger Osten!"

Für Max ist klar: Er wird die Schule wechseln, und er wird sich bei mehreren Schulen anmelden. Wo er im September landen wird, weiß er wohl erst im August. Aber eins weiß er sicher: Er möchte nicht an seinem Gymnasium bleiben und die Klasse wiederholen.

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