Gaffst du noch, oder hilfst du schon?

5.9.2017, 17:35 Uhr
Gaffst du noch, oder hilfst du schon?

© Foto: NN-Archiv

Menschen wiegen sich in Anwesenheit anderer in Sicherheit. Sie gehen davon aus, in der Masse eine höhere Chance auf Hilfe zu haben. Psychologen fanden jedoch paradoxerweise heraus: Je mehr Zeugen in einer Notsituation anwesend sind, desto weniger kann das Opfer auf Hilfe hoffen.

Tritte gegen den Kopf – was die Überwachungskamera an der S-Bahn-Station aufgenommen hat, schockt die Öffentlichkeit. Aus heiterem Himmel wird ein Mann ohne Vorwarnung schlagartig niedergeprügelt.

Obwohl sich das Opfer verletzt auf dem Boden windet, tritt ihm der Täter noch einige Male ins Gesicht, bevor er plötzlich verschwindet. Das Opfer hat eine schwere Platzwunde am Kopf. Vom Angreifer fehlt jede Spur. Besonders merkwürdig: Ungefähr 20 weitere Fahrgäste haben das Geschehen beobachtet, aber nicht eingegriffen.

"Es ist niemand eingeschritten, weil es zu viele Beobachter gab", meint Privatdozent Markus Müller. Der gelernte Psychologe aus Nürnberg hat sich viel mit dem sogenannten Hilfeverhalten beschäftigt. "Je mehr Zuschauer es in einer potenziellen Notsituation gibt, desto weniger Hilfe bekommt das Opfer", erklärt Müller diese Situation, die der Fachmann "Bystander-Effekt", auf Deutsch Zuschauereffekt, nennt.

Für diesen Effekt gibt es drei Ursachen. Erstens: Die Interpretation einer Situation ist entscheidend dafür, ob wir eingreifen oder nicht. Können wir die Lage nicht richtig deuten, orientieren wir uns gerne an anderen. Aber die anderen machen es genau so: Sie beobachten unsere Reaktionen. Wenn sich aber keiner der Anwesenden etwas anmerken lässt, zieht jeder den Schluss: Hier wird keine Hilfe gebraucht. Die Psychologie spricht in diesem Zusammenhang von der "pluralistischen Ignoranz". Dieses Phänomen kann dafür sorgen, dass ganze Gruppen von Beobachtern in einer Notsituation nichts unternehmen.

Der zweite Grund für den Bystander-Effekt ist die "Verantwortungsdiffusion". Experten bezeichnen damit Folgendes: Mit der Anzahl potenzieller Helfer sinkt das Verantwortungsgefühl des Einzelnen. Gibt es aber nur einen Beobachter, lastet die gesamte Verantwortung auf ihm. Daher ist die Hilfsbereitschaft des Einzelnen am größten, wenn er der einzige Zeuge ist.

Die dritte Ursache des Bystander-Effekts ist die Angst, von anderen negativ bewertet zu werden. Die Furcht, sich zu blamieren, wird von Wissenschaftlern "Bewertungsangst" genannt. Sie ist umso stärker, je mehr andere Zeugen anwesend sind, die über die eigenen Hilfeversuche schlecht reden könnten. Nach dem Motto: Wie stellt sich denn der an? Da hilft man doch ganz anders!

Aus diesen drei Erklärungen ergeben sich folgende Konsequenzen für den Fall, dass man selbst in eine Notsituation gerät:

1. Hab keine Angst davor, mit dem Gedanken "Ich brauche Hilfe" völlig falsch zu liegen!

2. Mach den anwesenden Personen klar, dass es sich um eine Notfallsituation handelt und dass du Hilfe benötigst! Ruf "Hilfe" und am besten noch dazu, was dein Problem ist: "Ich habe mich verletzt! Ich brauche einen Krankenwagen!"

3. Mach klar wen du meinst! Schau dem potenziellen Helfer direkt in die Augen und sprich ihn persönlich an: "Sie, dort drüben mit dem weißen T-Shirt, ich kann mich nicht bewegen, bitte helfen Sie mir!" So stärkt man dessen Verantwortungsgefühl und verbessert seine eigene Chance auf Hilfe.

Tipps für Zeugen

Der Bystander-Effekt ist kein Naturgesetz – es gibt immer Möglichkeiten zu handeln. Deshalb jetzt noch Tipps für Zeugen:

1. Lerne hinzuschauen!

2. Auch wenn andere Zeugen nicht helfen – deine Hilfe kann trotzdem erforderlich sein!

3. Gehe als gutes Beispiel voran, dann werden auch andere helfen!

4. Bevor du blindlings aktiv wirst, denk erst nach: Welche Handlungsmöglichkeiten habe ich?

5. Aber denk auch an deine Sicherheit, bring dich nicht in Gefahr!

6. Hole dir Unterstützung von anderen Anwesenden.

7. Fordere gegebenenfalls einen Täter nicht heraus, da die Situation sonst eskalieren könnte! Zur Not ruf die Polizei!

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