Lehrbuch und Realität sind zwei paar Stiefel

13.7.2015, 17:46 Uhr
Lehrbuch und Realität sind zwei paar Stiefel

© Fotos: Baolinh Nguyen, Montage: Alexander Pfefferle

Nennen wir ihn einfach mal Sam. Seine richtige Identität soll geschützt bleiben. Denn Sam ist ein minderjähriger, unbegleiteter Flüchtling aus Gambia. Die Frage, wie alt er sei, beantwortet er mit „1999“. Also ist er 16. Oder noch 15?

Völlig egal, fest steht: Sam spielt leidenschaftlich gerne Fußball. Das hat er schon daheim gemacht, das möchte er hier jetzt weitermachen. Das Problem dabei: Sam hat Schuhgröße 47. Fußballschuhe in seiner Größe sind kaum zu kriegen, eine Maßanfertigung wäre natürlich viel zu teuer.

Und an dieser Stelle kommen Studierende der Technischen Hochschule (TH) Nürnberg ins Spiel. Sie konnten Sam tatsächlich Fußballschuhe besorgen – nagelneue, feuerrote Fußballschuhe. „Project Work“ nennt sich das Modul im Bachelor-Studiengang International Business an der TH: vier Semesterwochenstunden, sechs ECTS-Punkte.

Hinter diesen nackten Zahlen verbirgt sich eine Menge Arbeit: „Die Studierenden sollen lernen, alle Phasen eines konkreten Projektes zu meistern“, erklärt die zuständige Professorin Birgit Eitel, „von der Idee über die Planung und Organisation bis hin zum erfolgreichen Abschluss.“

Und das alles nicht allein, sondern in Gruppen. Denn die Fähigkeit zum Teamwork ist eine der wichtigsten, die von künftigen Managern erwartet werden.

Sechs verschiedene Projekte standen im Sommersemester für die insgesamt 31 Studierenden in dem Modul zur Auswahl. Fast alle wollten die Aufgabe mit den Flüchtlingen bearbeiten. Da musste dann das Los entscheiden: Eva, Bao, Felix, Jana waren die Glücklichen, die die begehrte Gruppe bilden durften.

Dazu kamen noch Pauline aus Frankreich und Bianca aus Rumänien. Die beiden zeigen: Etwa ein Drittel der Studierenden im – übrigens rein englischsprachigen – Bachelor-Studiengang International Business kommt aus dem Ausland. Die Aufgabe des Teams bestand aus zwei Teilen: 1. Organisiert eine Spendenaktion für Sportartikel, die ihr dann Flüchtlingen in Nürnberg überreichen könnt. Und 2.: Kümmert euch darum, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, dass Asylbewerber in örtlichen Sportvereinen mitmachen und auf diesem Weg vielleicht ein bisschen Anschluss in unserer Gesellschaft finden können.

Die Ergebnisse der Verhandlungen mit den Sportvereinen haben die Studierenden in einem Bericht niedergelegt, der künftig der Arbeit mit anerkannten Asylbewerbern zugute kommen soll. „Und die Spendenaktion war ein voller Erfolg“, berichtet Eva, „es sind viele Leute gekommen, die zum Teil kartonweise prima erhaltene Sportartikel und -klamotten abgegeben haben: Bälle, Springseile, Gewichte, Trikots, Hosen, Schuhe.“

Die Sachen wurden dann noch am selben Tag auf verschiedene Flüchtlingsunterkünfte verteilt, mit deren Leitern die Studierenden zuvor die entsprechenden Kontakte geknüpft hatten. Darunter war auch die Clearingstelle für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge in der Juvenellstraße in Nürnberg.

„Natürlich haben wir da sehr gerne mitgemacht“, sagt die Dienststellenleiterin Lisa Schröder, „das Geld, das wir pro Flüchtling zur Verfügung haben, reicht für das Nötigste. Aber wir können nicht jedem irgendwelche Sportartikel kaufen. Daher haben wir uns sehr gefreut über die gespendeten Sachen, die die Studierenden vorbeigebracht haben.“

Bis auf Sam. Der war ein bisschen enttäuscht. Keine Fußballschuhe in Größe 47 dabei. „Wir waren fast genauso traurig wie der“, sagt Eva, „weil wir ihm nicht helfen konnten.“

Umso mehr freute sich die Gruppe, als nach ihrer Rückkehr von der Clearingstelle noch ein Nachzügler zum Spenden kam, „ein Profisportler“, sagt Bianca, „aber ich weiß nicht, wer“. Der lud eine ganze Kofferraumladung nagelneuer Sportschuhe aus, darunter auch sehr große Fußballschule — Größe 47. Und dann fuhr die Gruppe halt nochmal in die Clearingstelle und überreichte Sam die ersehnten Treter.

Nicht nur, aber vor allem an diesem Detail haben die Studierenden gelernt: „Man kann vorher noch genau planen“, meint Bao, „wenn man dann wirklich was auf die Beine stellt, tun sich Probleme auf, an die man vorher gar nicht gedacht hat.“ Oder, wie es Professorin Eitel formuliert: „Die Realität sieht meistens ganz anders aus, als es im Lehrbuch steht!“

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