LiteratuReise: "Haltet mir die Calwer vom Leib"

9.10.2018, 17:47 Uhr
Der Marktplatz von Calw: Hermann Hesses Geburtshaus ist das zweite von rechts.

© Fabienne Acker Der Marktplatz von Calw: Hermann Hesses Geburtshaus ist das zweite von rechts.

Reißendes Wasser. Es tobt über herausragende Steine, bricht seine Wellen an kleinen Grünflächen, die sich durch das Flussbett ziehen. Ich stehe auf der Brücke mit den grauen Pflastersteinen und starre gedankenverloren auf die Fachwerkhäuser am Horizont.

Ein Mann ist hinter mir. Einen Kopf größer als ich. Auch er sieht zur Innenstadt herüber. Doch ich greife vor. Ungefähr 45 Minuten von Stuttgart entfernt liegt das Schwarzwald-Städtchen Calw. Was so besonders daran ist?

Literaturnobelpreisträger Hermann Hesse wird hier am 2. Juli 1877 geboren. Gemäß der urbanen Mund-zu-Mund-Propaganda ist es ein Muss, Hesse-Klassiker wie den "Steppenwolf" oder "Siddhartha" in seinen frühen 20ern zu lesen.

Mit fast 23 habe ich meine Pflicht erfüllt. Fasziniert von Hesses Schreibe mache ich mich also auf, die Jugend des Mannes zu ergründen, der die heutige Jugend immer noch bewegt. Um die volle Hesse-Dröhnung zu bekommen, habe ich beschlossen, die Stadtführung mitzumachen. Die beginnt aber erst in zwei Stunden. Ich habe also noch Zeit, einen Blick ins Museum zu werfen.

Im ersten Ausstellungsraum weht mir ein Hauch von Staub und Holz entgegen, die Dielen knarren. Mich erwartet der Himmel für jeden Bücherwurm: zwei Wände voller Schmöker, schön drapiert vor gelbem Untergrund. Alles Werke vom guten Hermann. In 55 verschiedenen Sprachen.

Und dann tauche ich ein in die Welt des berühmten Dichters. In neun Räumen, in Abschnitte seines Lebens unterteilt, schlängele ich mich an gläsernen Ausstellungskästen vorbei.

Ich bestaune die Manuskripte seiner ersten Prosa, die er während seiner Buchhändlerausbildung in Tübingen verfasste. Ich bleibe an seiner wunderschönen Schreibmaschine, einem tanzenden Shiva, seinem Psychogramm und einer Kampfansage gegen den "Theatermonarchen" Kaiser Wilhelm II. hängen. Zum Schluss schmunzle ich über Hermanns Maler-Overall und seine Ruhestandsvilla Casa Hesse.

Ich schlendere aus dem Museum. Die Stadtführung beginnt gleich. Geduldig warte ich mit den anderen Teilnehmern, alle mindestens 40 Jahre alt, auf unseren Guide. Als er dann eintrifft, habe ich das Gefühl, das kann heiter werden.

Der Stadtführer, nennen wir ihn Harry, ist die Art zerstreuter Onkel. Der Typ Wollsocken zu Trekkingsandalen. Mich als Mädchen ignoriert er geflissentlich. Mein Alter scheint zu meiner Unsichtbarkeit sein Übriges zu tun. Aber gut, lasst uns starten.

Sohn eines Missionars

Der erste Stopp ist das Geburtshaus Hermann Hesses direkt am Calwer Marktplatz. Es steht in einem Dschungel aus Fachwerkhäusern, rote Geranien schmücken die Fensterbänke. Harry kramt in seiner Tasche herum, bis er seine Aufzeichnungen findet. Von denen er abliest. Das hatte ich mir anders vorgestellt.

Ich erfahre zwar, dass Hesse als Missionarskind aufgewachsen ist und dass seine Mutter, als er vier Jahre alt war, erkannt hat, er werde noch Probleme machen: Denn "er folgt nicht". Doch nachlesen hätte ich das auch selbst gekonnt. Zudem ist Harry nicht in der Lage, irgendeine Frage zu beantworten. Ich kenne mich nach zwei Stunden im Museum besser dort aus als er.

Harry verliert sich in Erzählungen über Hesses Großeltern. Als ich mich gerade frage, ob das relevant ist, beginnt er, ein Gedicht vom guten Hermann vorzutragen. Und das nicht besonders gut. Puh, durchhalten Fabienne. Für Hesse.

Weiter geht’s den extra eingerichteten Hermann-Hesse-Weg entlang. Direkt an der neugotischen Kirche vorbei stapfen wir einen Hang hinauf. Währenddessen liest Harry uns vor, wie Hermann bei Nacht und Nebel aus einer Klosterschule in Maulbronn abhaut.

Er will nicht wie seine Eltern Missionar werden. Sondern "Dichter oder gar nichts", wie er sagt. Die Menschen in Calw stempeln ihn daraufhin als Taugenichts ab. Als Hesse nach Hause kommt, versuchen ihn seine Eltern, wieder auf Kurs zu bringen. Vergeblich. Hermann wird depressiv, kauft sich einen Revolver, möchte sich das Leben nehmen. Nachdem er in psychiatrische Behandlung geschickt wird, verfasst er einen bissigen Brief an seinen Vater: "Nachdem Sie mich zur Verzweiflung gebracht haben, sind Sie doch wohl bereit, sich meiner rasch zu entledigen". Damals ist er 15 Jahre alt.

Harry quittiert das mit einem: "Sie würden ihren Sohn ja auch für verrückt halten, wenn er Dichter werden wolle". Während Harry mir von Minute zu Minute unsympathischer wird, kann ich Hermann Hesse immer besser leiden.

Am städtischen Gymnasium macht unsere kleine Gruppe kurz Halt. Nach Hermanns Nobelpreissieg macht sich Calw Gedanken darüber, wie es ihr literarisches Eigengewächs ehren könnte. Die Schule nach ihm benennen? Nein, so einer, ein Tunichtgut, könne kein Vorbild für Kinder sein.

Kein Wunder, dass Hesse sich nicht mehr oft in Gerbers Aue, wie er seinen Geburtsort nennt, blicken lässt. Und wenn, dann bittet er um eine Sache: "Haltet mir die Calwer vom Leib". Ich mustere Harry: Leider sehe ich das bei ihm ähnlich.

Heutzutage sieht das mit der Verehrung etwas anders aus: Ein Museum, eine Stadtführung, ein Weg, ein Gymnasium (das doch noch umbenannt wurde) und ein Brunnen, der zum Geburtstag Hesses geschmückt wird, tragen den Namen des Schriftstellers. Scheint so, als müsse da jemand Abbitte leisten.

Letzte Station unserer Führung: die Nikolausbrücke. Hermann Hesses Lieblingsort in Calw ziert eine Kapelle. Der Nagold rauscht, Radfahrer entspannen bei einem Eis und machen Selfies mit einem coolen Herren. Harry beendet die Führung nicht, bevor er noch "Abends muss ich auf der Brücke stehen" verschandelt. Dann ist es vorbei.

An die Brüstung gelehnt, beginne ich zu verstehen, warum das Hermanns Lieblingsplatz war und denke über seine Definition von Eigensinn nach: "Jedes Lebewesen, jeder Strauch hat seinen eigenen Sinn und darauf beruht es, dass die Welt gut und schön und reich ist." Der Mann hinter mir hat so einen Glanz im Gesicht. Er schaut mir über die Schulter. Hermann Hesses Bronze-Zwilling genießt die Aussicht mit mir.

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