Nichts für Weicheier: Auf Exkursion in Kirgistan

2.2.2017, 18:00 Uhr
Die Straßen in Zentralasien sind endlose Geraden.

© Eric Boettcher Die Straßen in Zentralasien sind endlose Geraden.

Jeder Student der Geographie absolviert während seines Studiums mehrere kleine und große Exkursionen. Wann hat man auch schon die Gelegenheit, wissenschaftlich geführt die abgelegensten Winkel dieser Erde zu erkunden? Gegenden fernab von All-Inclusive-Bettenburgen, liegenbelagerten Sandstränden und fotowütigen Reisegruppen, Gegenden die wohl kaum ein Otto-Normal-Pauschaltourist auf seinem Urlaubsradar hat. Hier berichten die Teilnehmer von ihren Erlebnissen:

Als für das Sommersemester 2016 die große Exkursion Zentralasien angeboten wurde, war uns klar, dass wir von diesem Fleckchen Erde absolut nichts wussten. Und genau deshalb wollten wir dort hin! So starteten Ende August rund 30 angehende Geographen der FAU Erlangen-Nürnberg unter der Leitung der Dozenten Prof. Michael Richter und Kim Andre Vanselow ihr 35-tägiges Abenteuer, welches uns durch Kirgistan, Tadschikistan und die westchinesische Provinz Xinjang führte – mit kaum mehr gewappnet als Zelten, Schlafsäcken und einigen wenigen Ersatzunterhosen.

Der Anfang

Die ersten Tage verbrachten wir in der kirgisischen Hauptstadt Bishkek, deren Struktur typisch für die einer postsowjetischen Stadt ist. Neben kilometerlangen, geraden Ein- und Ausfallstraßen, links und rechts geschmückt mit prächtiger Begrünung, fehlten genauso wenig die gigantischen Bauten, die noch immer an die sozialistische Epoche erinnern. Denn groß bauen, das konnten Sowjets. Es scheint fast, als sei die Zeit stehen geblieben, bis man an der nächsten Ecke eine gigantische Reklametafel erblickt, auf der ein rüstiger kirgisischer Rentner mit traditionellem Hut das neueste Smartphone verkaufen möchte. Ein Merkmal Zentralasiens sind die Basare in allen möglichen Größen, Formen und Farben und mit einem Angebot, das Reizüberflutung garantiert. In Bishkek gibt es etwa den Dordoi-Basar, komplett und mehrstöckig aus alten Schiffscontainern errichtet und in der Größe einer kleinen Stadt. Von "Rolox"-Uhren über "Niko"- und "Abibas"-Schuhe bis zu "Caivln Kieln"-Unterwäsche sind dort alle Topmarken als billige Nachmache vertreten, meist als Import aus dem nahen China – natürlich "garantiert" original.

Abenteuerliche Transportmittel

Als treue Gefährte(n) standen uns zwei alte Polizeibusse von Mercedes zur Verfügung, ausgestattet mit Platz für 16 Mann pro Bus, unseren mutigen Fahrern Almas und Omush und genügend Federweg und PS, um in der zentralasiatischen Pampa vom Fleck zu kommen - auch, wenn hin und wieder mehr Studenten- als Pferdestärke die Autos bergaufwärts schob.  Derartige Fahrzeuge sind dringend erforderlich, möchte man es mit den zentralasiatischen "Straßen“ (an manchen Stellen gibt es sogar Asphalt zwischen den Schlaglöchern) oder dem berühmten "Pamir Highway" aufnehmen. Diese von den Sowjets angelegte Straße ist die einzige Verbindung der ost-tadschikischen autonomen Provinz Gorno-Badakhshan mit dem Westen des Landes sowie mit Kirgistan. Zwar gibt es nur wenige Orte, an denen man weiter vom nächsten Ozean entfernt sein könnte als in Zentralasie.

Dennoch: Wer leicht seekrank wird, sollte den "Pamir Highway" tunlichst meiden. Nicht umsonst wird er aufgrund des Fahrbahnbelags auch als Wellblechstraße bezeichnet. Was wiederum regelmäßig zu kleineren und größeren Schäden an den Bussen führte – die kleineren wurden von unseren Fahrern fachmännisch mit Klebeband und Stacheldraht vom Straßenrand beseitigt, bei größeren Schäden wurde fachmännisch improvisiert. So wurde der abgefallene Auspuff eines Buses einfach aufs Dach geschnallt und während des nächsten Stopovers wieder angeschweißt. Und als beim Halt auf einem Pass die Bremsen des einen Busses als nicht mehr vertrauenswürdig erachtet wurden packte man kurzerhand alle Studis in einen Bus und fuhr dicht gedrängt, über- und untereinandergestapelt sowie im Mittelgang stehend zu dreißigst in einem Bus bis zur nächsten größeren Ortschaft, wo Ersatz aufgetrieben wurde. Die Wege zu den nächsten größeren Ortschaften sind weit in Zentralasien...

Ein Meer auf dem Dach der Welt

Unsere Route führte uns entlang des Issyk-Kul, welcher die zehnfache Größe des Bodensees aufweist und als zweittiefster und zweitgrößter Gebirgssee der Erde gilt. Aufgrund seiner Größe hat der See sogar seine eigenen Gezeiten und die Sowjets führten hier U-Boot-Tests durch. Beim Zelten an seinem Ufer kam dann doch ein wenig das Gefühl von Urlaub am Meer auf.

Weiter ging es durch das christlich geprägte  Ennoniten-Dorf "Rot-Front", das im 19. Jahrhundert von Wolgadeutschen gegründet wurde. Wir wurden sogleich willkommen geheißen und durften deren Gottesdienst in russischer und deutscher Sprache beiwohnen. Das Dorf ist eines der wenigen in Zentralasien, das noch immer einen deutschstämmigen Bevölkerungsanteil besitzt.

Der Abstecher in die abgelegene Geisterstadt Enylchek – heute militärische Sperrzone und berühmt-berüchtigt für die Murmeltierpest – vermittelte uns ein völlig neues Verständnis von Abgeschiedenheit. Gegen Ende der 1980er Jahre sollte hier eine fortschrittliche Bergarbeitersiedlung entstehen, die Gebäude waren schon alle errichtet. Doch dann zerfiel die Sowjetunion und mit ihr auch dieser Ort, bevor er überhaupt an Leben gewann.

Von Grenzkontrollen und Sternenhimmeln

Da wir auf unserer Exkursion drei Länder besuchten, von denen für zwei auch noch extra Visa benötigt wurden, kamen wir häufig in Kontakt mit Polizisten, Soldaten und Grenzposten. Während vor allem tadschikische Grenzer meist einen kleinen Obolus als einzig gültiges Visa anerkennen, schützt China sein Territorium mit Kontrollstationen und gesperrten Pufferzonen, die weit vor der eigentlichen Grenze beginnen und noch etliche Kilometer in das chinesische Hinterland hineinreichen. Nicht einmal ein kirgisisches Murmeltier könnte hier unentdeckt illegal nach China einreisen und wir, die wir ganz legal und mit offiziellen Visa und Stempeln kamen, brauchten einen ganzen Tag dafür, um durch all die unzähligen Passkontrollen zu kommen. Wobei etliche davon mehr eine Machtdemonstration der Han-chinesischen Zentralregierung über die uigurische Provinz Xinjang als eine tatsächliche Kontrolle waren, da bis auf wenige Ausnahmen weder die Pässe noch ihre Eigentümer wirklich begutachtet wurden.

Die Uiguren sind ein Turkvolk mit eigener Sprache und Schrift. Eine Hochburg der Uiguren ist die Stadt Kashgar, welche durch den aus Peking geleiteten innerstaatlichen Machtausbau zum Teil sehr surreal wirkt: Während auf dem zentralen und von hoffnungslos überladenen Elektrorollern befahrenen Hauptplatz eine gewaltige Mao Zedong-Statue mit erhobener Hand grüßt, herrscht zwei Straßen weiter auf einem traditionell Uigurischen Basar geselliges Treiben. Das Aufeinandertreffen
zweier so unterschiedlicher Ethnien gipfelt hier nicht selten in Aufständen und Krawallen. Letztendlich hing uns alles Uniformierte ziemlich schnell zum Hals raus.

Von einem positiven Grenzerlebnis kann aber auch berichtet werden: als wir spätabends vor der ost-tadschikischen Stadt Murghab darauf warten mussten, bis der wachhabende Soldat geweckt und hergebracht wurde, um uns durch eine eher symbolisch als tatsächlich physisch vorhandene Schranke zu winken, erstreckte sich über uns ein Sternenhimmel, wie ihn kaum jemand von uns je zuvor gesehen hatte. Fernab von allem, was den Nachthimmel mit Licht verschmutzen könnte, bot die Milchstraße als gleißendes und sich scheinbar endlos erstreckendes Band von Sternen einen faszinierenden Anblick.

Allgegenwärtig Krankheiten

Exotische Küche, kräftezehrende Wanderungen, glühende Hitze in den Tälern und eisige Nächte in den Bergen sowie fragwürdige hygienische Standards stellten unser Immunsystem auf eine harte Probe. So ist es nicht verwunderlich, dass die meisten Exkursionsteilnehmer mindestens einmal mit Grippe, Fieber oder Durchfall zu kämpfen hatte. Tatsächlich blieb von 30 Studis nur einer die komplette Exkursion über gesund – der verknackste sich dafür bei einer Wanderung seinen Knöchel.

Um uns nicht alle gegenseitig anzustecken, wurden die Schwerkranken zuweilen in Homestays ausgelagert (oder besser gesagt eingelagert), während der verbliebene Rest in sicherer Entfernung seine Zelte aufschlug. Durchfall ist schon mit sanitären Anlagen auf hiesigem Niveau nicht angenehm. Alle halbe Stunde ein zentralasiatisches, dem Geruch und der Sickergrube nach zu urteilen sehr häufig frequentiertes Plumpsklo aufzusuchen, ist dann allerdings doch noch mal eine Nummer härter.

Khorog – Eine tadschikische Großstadt

Als wir vom Hochplateau im Osten des tadschikischen Pamirs – dem "Dach der Welt" – wo es von Geröll und Staub abgesehen reichlich wenig gibt, bergab in Richtung der nahe der afghanischen Grenze gelegenen Provinzhauptstadt Khorog fuhren, stieg mit jedem zurückgelegten Kilometer auch unsere Vorfreude darauf, mal wieder so etwas wie eine Großstadt zu Gesicht zu bekommen: Nach und nach wurde die Straße besser, es wurde wieder wärmer, Flüsse durchzogen die Täler, mit dem Wasser kehrte auch die Vegetation zurück und die Vegetation wiederum hatte Menschen, Tiere und kleine Dörfer im Schlepptau. Khorog selbst ist mit seinen etwa 25.000 Einwohnern DIE Metropole Gorno-Badakhshans schlechthin und war für uns eine äußerst positive Überraschung und eine erfreuliche Abwechslung zur zentralasiatischen Ödnis. Khorog ist warm, grün, sauber, mit schnuckeligen Pamiri-Häusern bebaut und verströmt ein fast westliches Flair. Die zum größten Teil ismailitischen Einwohner sind – wie alle Menschen, denen wir auf unserer Exkursion begegneten – gastfreundlich und hilfsbereit, zudem verfügt die Stadt über den zweithöchsten botanischen Garten der Welt und ist einer von drei Standorten der UCA, der vom Aga Khan – dem religiösen Oberhaupt der Ismailiten – gegründeten University of Central Asia.

Von Gletschern und der Brennbarkeit von Kuhfladen

Unsere Route durch Tadschikistan führte uns auch nach Zong, einem kleinen Dorf im Süden der Provinz Gorno-Badakhshan. Unsere Zelte schlugen wir in einem kleinen Wäldchen auf, 20 Meter vom Ufer des Pjandsch entfernt, der hier die Grenze zum afghanischen Wakhan-Korridor bildet. Die Entstehung dieses zum Teil nur wenige Kilometer breiten Streifens Afghanistans, eingepfercht zwischen Tadschikistan im Norden, Pakistan im Süden und China im Osten, geht noch auf das "Great Game" zurück, als der Wakhan-Korridor als Pufferzone zwischen den im Süden stationierten Briten und den aus Norden immer weiter vorstoßenden Russen eingerichtet wurde.

Wer es sich gesundheitlich zutraute, schnallte sich am nächsten Morgen Schlafsack, Isomatte und Zelt auf den Rücken und machte sich auf zu einer Wanderung zur Engelswiese, einer Wiese am Fuß des Pik Engels, der mit etwa 6500 Metern immerhin der dritthöchste Gipfel der Shakhdara-Kette ist. Der Aufstieg von 2800  auf 4200 Meter, vorbei an reißenden Gebirgsbächen, schwindelerregenden Schluchten und mit Ausblick auf gewaltige Schwemmfächer verlangte uns einiges an Kondition ab. Doch umso großartiger war das Gefühl, als wir am späten Nachmittag endlich am Ziel ankamen, von wo aus man einen grandiosen Blick auf den Berg und seinen Gletscher hatte. Um uns den Abend über warm zu halten wurde – da in solchen Höhen eklatanter Mangel an Bäumen und Sträuchern herrscht – umgehend ein traditionell zentralasiatisches Lagerfeuer aus herumliegenden getrockneten Kuhfladen entfacht. Zwar produziert so ein Feuer mehr Rauch als Wärme, doch fetzige Musik aus der auf einem kirgisischen Basar erworbenen X-Bass-Box, wilde Tänze ums Feuer (bzw. die Rauchschwaden) und, zugegeben, auch der eine oder andere Schluck aus der Vodkaflasche, ließen es weder kalt noch langweilig werden. Nachdem der Mond den Pik Engels noch wie extra für uns bestellt in gespenstisch-schönes Licht getaucht hatte, ging ein weiterer ereignisreicher Exkursionstag zu Ende und wir quetschten uns jeweils zu siebt in unsere beiden mitgebrachten Vier-Mann-Zelte. In dieser Nacht musste niemand frieren.

Das Ende

Vorbei an semi-erotischen Fettsteißschafen, Murmeltier-Erosionen und wunderschönen traditionellen Pamiri-Häusern verließen wir Tadschikistan, das Ende der Exkursion rückte langsam aber sicher näher. Zum Abschluss stand an der kirgisisch-usbekischen Grenze, am Rande des dicht besiedelten Fergana-Beckens, nach knapp einmonatiger Abstinenz mit Osh endlich wieder eine echte Großstadt auf dem Programm. Hier frönten wir der sehnlich vermissten westlichen Küche, deckten uns ein letztes Mal auf den Basaren der Stadt mit Souvenirs ein und machten reichlich von sanitären Einrichtungen mit nahezu westlichem Standard Gebrauch. Nach insgesamt 35 ereignisreichen Tagen trennten sich die Wege am Flughafen in Bishkek. Eine letzte Umarmung, ein letzter Blick zurück, bevor der Rückflug nach Hause angetreten wurde und die herrliche Ruhe und Entschleunigung wieder dem hektischen Alltag wich. Am meisten in Erinnerung wird neben den atemberaubenden Landschaftskulissen wohl die einzigartige Gastfreundschaft bleiben, die es so sonst nur an wenigen Flecken der Erde gibt.

 

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